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Wohlstand ist mehr als Wachstum

Das Forschungszentrum für Umweltpolitik entwickelt einen „Nationalen Wohlfahrtsindex“

18.04.2011

Umweltschäden durch extreme Trockenheit werden häufiger.

Umweltschäden durch extreme Trockenheit werden häufiger.
Bildquelle: BMU/Brigitte Hiss

Von David Bedürftig

Ein steigendes Bruttoinlandsprodukt (BIP) gilt als Erfolgsmeldung: Wirtschaftswachstum wird mit Wohlstand gleichgesetzt. Das BIP ist nicht nur die allseits anerkannte Kenngröße für die ökonomische Entwicklung eines Landes – es fungiert auch als zentraler Indikator für die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung.

„Genau daraus ergibt sich ein Problem“, sagt Roland Zieschank, Diplomverwaltungswissenschaftler und Projektleiter am Forschungszentrum für Umweltpolitik (FFU) der Freien Universität Berlin. „Wohlfahrt heißt nicht per se Wachstum.“ Zieschanks Projekt, gefördert durch das Bundesumweltministerium und das Umweltbundesamt, hat zur Aufgabe, diesen Aspekt der Nachhaltigkeitsstrategie zu untersuchen und die Indikatorendiskussion weiterzuführen.

Die Politik für eine nachhaltige Entwicklung hat zum Ziel, der Wirtschaft Generationengerechtigkeit nahezubringen und sozialen Zusammenhalt und ökologische Verträglichkeit zu fördern – doch dazu steht die Orientierung am BIP als Wohlstandsindikator in einem Spannungsfeld.

Zieschank, der seit 1990 am FFU arbeitet, weist seit Langem darauf hin, dass die Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung mittels des BIP eine Reihe von Defiziten aufweise: Es lasse das Kriterium Nachhaltigkeit außen vor, verschleiere die Kosten des Wachstums und lasse keinen Schluss darauf zu, wie der Wohlstand verteilt ist. „Mit dem BIP nimmt die Umweltbelastung in ihrer Gesamtheit zu – denkt man an Bodenbelastungen, Treibhausgasemissionen oder das Verschwinden von Tier- und Pflanzenarten“, kritisiert der Wissenschaftler ein Verständnis von Wirtschaftswachstum, das sich noch immer an einer Situation wie nach dem Zweiten Weltkrieg orientiere, in der Massenproduktion für die Sicherung der Grundversorgung der Bevölkerung sinnvoll war. Der reale Wohlstand bleibe so auf der Strecke. Zudem werde in der BIP-Rechnung Natur lediglich als Rohstoff betrachtet, den Folgegenerationen werde keine Beachtung geschenkt, und eine faire Verteilung des Wohlstands sei nicht erfassbar.

„Nicht nur das Bundesministerium für Umwelt suchte nach Alternativen zur Orientierung am BIP“, erklärt der Forscher. Zieschank entwickelte nun gemeinsam mit Professor Hans Diefenbacher von der Universität Heidelberg einen „Nationalen Wohlfahrtsindex“ (NWI): Dieser stellt mit 21 Variablen die komplexe Beziehung von Wachstum und Wohlstand dar und soll mit seinem ökologischen und sozialen Ansatz das BIP ergänzen. So werden Hausarbeit und Ehrenamt in die Wertschöpfung eingerechnet, während Ausgaben zur Kompensation von Umweltschäden und Ersatzkosten durch den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen negativ gezählt werden. Je ungleicher die Einkommensverteilung einer Gesellschaft, desto kleiner der NWI. Der Index berücksichtigt auch Aspekte wie Lebensqualität und Gemeinwohl, die zum Wohlstand beitragen, mit dem BIP aber nicht messbar sind.

„Wir wollen die gesellschaftliche Diskussion begleiten“, sagt Roland Zieschank. Vertreter aus Politik und Verwaltung wie auch Stiftungen der Parteien suchen schon länger den Austausch mit dem FFU. Im Januar 2011 hat der Bundestag nun die Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ ins Leben gerufen.