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Neue Lehrer braucht das Land

Das Zentrum für Lehrerbildung an der Freien Universität verbindet Administration, Service, Schulpraxis und Forschung

18.12.2010

Laura schlurft in den Klassenraum: die Kapuze tief in die Stirn gezogen, die Finger am Handy – auf die Ansagen des Lehrers reagiert die 15-Jährige nicht. Stattdessen beginnt sie zu telefonieren und demonstriert mit ihrer ganzen Haltung: Renitenz. Der Lehrer ist in einer Zwickmühle. Wie soll er sich verhalten?

An dieser Stelle stoppt Diemut Ophardt den Film – und gibt die Frage an ihre Studierenden weiter: Wie kann der Lehrer die Schülerin integrieren, ohne den Rest der Klasse zu vernachlässigen? Das Szenario, das sich so oder ähnlich täglich in den Klassenzimmern abspielt, ist eines von vielen inszenierten Videofallbeispielen, die an der Freien Universität in einer Studie mit Lehrkräften, Referendaren und Studierenden eingesetzt werden.

„Wir zeigen in den Filmen prekäre Situationen, etwa den Umgang mit Problemschülern. So wollen wir die Lehramtsstudierenden dabei unterstützen, ihr theoretisches Wissen zum Klassenmanagement, das sie im Studium erwerben, mit konkreten Situationen aus dem Lehreralltag zu verknüpfen“, erklärt Diemut Ophardt, promovierte Erziehungswissenschaftlerin und seit November Geschäftsführerin des Zentrums für Lehrerbildung (ZfL) der Freien Universität. In Kleingruppen spielen die Studenten Handlungsstrategien durch, die sie durch theoretische Modelle begründen und mit weiteren Videobeispielen vergleichen.

Die Arbeit mit Unterrichtsvideos gilt als vielversprechendes Mittel in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften. Aus der Lernpsychologie wisse man heute, dass die Verknüpfung von theoretischem Wissen und Handlungswissen nicht automatisch entsteht, sondern durch die Vermittlung bestimmter Instrumente – kognitiver tools – unterstützt werden könne, sagt Diemut Ophardt. Dazu gehört die Kompetenz, den weiteren Verlauf einer komplexen Unterrichtssituation vorauszusagen oder theoretisches Wissen auf Praxisbeispiele zu beziehen. Durch spezifische Lernarrangements sollen diese kognitiven tools gefördert werden. Ob sich der Einsatz derart innovativer Lerngelegenheiten tatsächlich auf die Fähigkeiten von Lehrkräften auswirkt, wird in der Studie KODEK („Kompetenzen des Klassenmanagements“) untersucht, einem von Professorin Felicitas Thiel und Diemut Ophardt geleiteten Projekt.

Die Entwicklung von neuen Lern-Arrangements zu unterstützen, ist ein Aufgabenbereich des Zentrums für Lehrerbildung. Zu den Basisaufgaben gehören zunächst die Organisation und Koordination des Lehramtsstudiums insgesamt. 2758 Studenten gibt es derzeit an der Freien Universität, die einen Bachelor- oder Masterabschluss für das Lehramt anstreben. Die Mitarbeiterinnen des ZfL kümmern sich darum, dass sie aus einem überschneidungsfreien Lehrangebot mit vielen möglichen Fächerkombinationen, die die Freie Universität anbietet, auswählen können. Auch die aufwändige Prüfungsadministration liegt in der Verantwortung des ZfL. Hinzu kommen Beratung und Unterstützung von Studierenden in schwierigen Studiumsphasen. Ein Beispiel ist Onur Eker. Der heute 26-Jährige studierte gleichzeitig an der Technischen und der Freien Universität; er hatte Schwierigkeiten, ein in der Studienordnung vorgeschriebenes Praktikum mit beiden Einrichtungen abzustimmen. Hier half das ZfL. „Die Mitarbeiter haben sich mit der TU in Verbindung gesetzt und die Schwierigkeiten beseitigt“, sagt der angehende Lehrer.

Über eines ist man sich heute einig: Eine moderne, kompetenzorientierte Lehrerbildung erfordert eine effektive Studienorganisation, ein ausgebautes Beratungssystem und ein hochwertiges Lehrangebot, das praxisorientiert und forschungsbasiert ist. Wie man sich dieser vierfachen Herausforderung stellt und die Aufgaben miteinander verbindet, wird derzeit an deutschen Universitäten an konkurrierenden Strukturmodellen diskutiert.

Das Zentrum für Lehrerbildung an der Freien Universität repräsentiert eines dieser Modelle. Ein zentrales Element beruht auf der Tradition, dass die Professuren der Fachdidaktiken an der Freien Universität nicht von den einzelnen Fächern – und damit von der Forschung – getrennt angesiedelt sind, sondern in den jeweiligen Fachbereichen. Ein großer Vorteil, findet man nicht nur am ZfL: „Mit der optimalen Verzahnung von Wissenschaft und Praxis steht und fällt der Erfolg eines anwendungsorientierten Studiums“, sagt Professor Peter-André Alt, Präsident der Freien Universität. Studierende müssten deshalb nah an Praxis und Forschung ausgebildet werden. „Eine aus der Universität herausgelöste Professional School kann diesem Anspruch nicht gerecht werden. Voraussetzung hierfür ist ein in die Strukturen universitärer Forschung und Lehre integriertes Kompetenzzentrum, wie es mit dem ZfL an der Freien Universität etabliert worden ist.“

Um unterrichtsbezogene Forschung weiter zu fördern, hat das ZfL in diesem Semester ein neues Forum eingerichtet: Im Rahmen der Lauben-Lectures – einer Vortragsreihe die in der sogenannten Rostlaube, dem Gebäudekomplex für die Geistes- und Sozialwissenschaften der Freien Universität, stattfindet – stellen junge Wissenschaftler Projekte und Ergebnisse der Unterrichts- und Lehrerbildungsforschung vor. „Dadurch erhoffen wir uns zusätzlichen Austausch zwischen den verschiedenen Fachdidaktiken, der Erziehungswissenschaft und der Schulpraxis“, sagt Diemut Ophardt.

Eine kompetenzorientierte Lehrerbildung gehe jedoch über die Verknüpfung von Lehre und Forschung hinaus. „Wichtig ist es, die professionelle Entwicklung und Ausbildung von Lehrkräften insgesamt im Blick zu haben“, sagt Diemut Ophardt. Die Universität müsse ihren spezifischen Beitrag hierzu leisten. Das bedeute, dass die Studierenden schon während ihrer Ausbildung Fähigkeiten erwerben müssten – etwa die kriteriengestützte Beurteilung komplexer Unterrichtsszusammenhänge – die es ihnen ermöglichten, später im Beruf kontinuierlich weiterzulernen. „Das heißt aber auch, dass wir in Zukunft viel aktiver und früher ansetzen müssen, um geeignete Studierende für ein Lehramtsstudium zu gewinnen“, sagt Diemut Ophardt.

Vorreiter für derartige zielgruppenorientierten Angebote könnte das vom Berliner Senat initiierte und durch den Europäischen Sozialfonds geförderte Projekt „MigraMentor“ sein. Es wird von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Freien Universität und der Humboldt-Universität gemeinsam betreut und ist am ZfL angesiedelt. Ziel des Projekts ist es, Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund für den Lehrerberuf – hier vor allem für mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer – zu gewinnen und durch verschiedene Maßnahmen zu unterstützen.

Eine dieser Maßnahmen ist der für Juni geplante Schülercampus an der Freien Universität: In Zusammenarbeit mit den Stiftungen ZEIT Ebelin und Gerd Bucerius und Hertie sowie den Projektpartnern werden 30 ausgewählte Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund aus den Jahrgangsstufen 11 bis 13 an einem speziell ausgearbeiteten Programm teilnehmen. Vier Tage lang werden die potenziellen Lehramtsstudierenden in Kleingruppen von Mentoren betreut, können in Seminaren testen, ob ihnen das Studium zusagt und erhalten Kontakt zu Professoren, Referendaren und Ausbildern. Studierende mit Migrationshintergrund gezielt zu gewinnen, gehört Präsident Peter-André Alt zufolge zum Selbstverständnis der Freien Unversität und ihren Prinzipien der Zugangs- und Teilhabegerechtigkeit.

Viele Jahre lang war die Ausbildung künftiger Lehrer ein notorisches Problem- und Spannungsfeld in der deutschen Bildungslandschaft. Das lag nicht zuletzt an der komplizierten Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Akteuren: Politik, Universitäten, Schulen sowie den Fach- und Hauptseminaren der zweiten Ausbildungsphase. Inzwischen ist Bewegung in die verhärteten Fronten gekommen: Ein Kultusministerkonferenz-Beschluss hat die Neustrukturierung des Lehramtsstudiums und die Einrichtung eines Praxissemesters bis zum Wintersemester 2013/14 gefordert. Die hierfür an jeder Universität erforderliche Abstimmung und Kooperation mit betreuenden Lehrpersonen an Schulen sowie Ausbildern des Referendariats sieht man am ZfL als große Chance. „Wir können das alte Theorie-Praxis-Problem wieder aufgreifen und verkrustete Strukturen in der Lehrerbildung aufbrechen“, freut sich Diemut Ophardt.

Mit der strategischen Ausrichtung des Zentrums für Lehrerbildung sieht sich die Freie Universität hierfür gut gerüstet.