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Das Menschliche im Vampir

Wissenschaftler der Freien Universität Berlin forscht über Vampirdarstellungen in Literatur und Film

15.10.2010

Früher war er wirklich hässlich. Seine Augen blutunterlaufen, die Haut leichenblass, die Eckzähne spitz. Er schlief in Särgen, scheute das Sonnenlicht und ernährte sich von Menschenblut – der Vampir. Doch das Bild des unersättlichen Blutsaugers hat sich gewandelt, aus dem Monster ist ein regelrechter Schwiegermuttertraum geworden, ein gutaussehender Charmeur mit Familiensinn. Auch seine Ernährung hat der zeitgemäße Untote umgestellt. Auf seinem Speiseplan steht nun nicht mehr Menschen-, sondern Tierblut. Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Und warum ist der Mythos um den Vampir seit nunmehr drei Jahrhunderten unsterblich?

Mit diesen Fragen befasst sich Stefan Keppler-Tasaki. Der Literaturwissenschaftler der Freien Universität ist vor sechs Jahren auf den Vampir gekommen und hat den ersten deutschsprachigen Sammelband zum Vampirfilm herausgegeben. Bis vor Kurzem hatte die Nachtgestalt als Forschungsgegenstand nicht den besten Ruf – wurde der Vampir doch hauptsächlich mit den Genres Horror und Fantastik assoziiert. Für Stefan Keppler-Tasaki jedoch ist der Vampir eine Figur des Transfers. Er überschreitet nationale und mediale Grenzen und wird dadurch zum Vorreiter von Internationalität und Intermedialität. Dies gilt spätestens seitdem er aus Bram Stokers englischem Roman „Dracula“ von 1897 in die deutsche Verfilmung Friedrich Wilhelm Murnaus von 1922 wanderte.

Doch der Untote ist noch mehr. „Der Vampir ist der Mensch in Extremform und deshalb kann man an seinem Beispiel viel über die Menschen lernen – er ist sozusagen eine Projektionsfläche für menschliche Wünsche und Ängste“, sagt Stefan Keppler-Tasaki. Anhand des Vampirs ließen sich grundlegende Fragen der Existenz diskutieren, beispielsweise Sterblichkeit und Sexualität. „Der Vampir, das sind wir alle“, sagt der 37-Jährige.

Noch im 19. Jahrhundert war der blutsaugende Beißer Sinnbild für alles Schlechte und Böse, die Allegorie der menschlichen Triebnatur. Der Vampir war ein Normenverletzer, in seiner Figur spiegelten sich menschliche Gewalt- und Machtfantasien und der Wunsch nach sexueller Grenzüberschreitung. „In den vergangenen 20 Jahren begann der Vampir dann die gesellschaftlichen Normen überzuerfüllen und wandelte sich vom grausamen zum edlen Übermenschen,“ sagt Stefan Keppler-Tasaki. Ein überraschender Darstellungswandel? Eher ein konsequenter, meint der Forscher: „Die Vampirgeschichte kann an sich nicht neu erfunden werden. Es gibt feste Bestandteile, wie etwa die Paradoxie, dass der Vampir weder tot noch lebendig ist oder, dass er sich von Blut ernährt. Die Autoren und Regisseure müssen variieren. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis aus dem bösen Untoten der strahlende Held wurde.“ Seit dem ersten Vampirfilm 1909 sind bis heute schätzungsweise 600 weitere entstanden, Bram Stokers „Dracula“ folgten tausende Vampirbücher. Doch in diesen Tagen scheinen die Blutsauger besondere Konjunktur in den Medien zu haben – fast schon inflationär tauchen vampirische Helden in Filmen, Fernsehserien und Romanen auf. „Das ist jedoch kein neuartiges Phänomen. Solche Hochphasen gab es in den vergangenen drei Jahrhunderten immer wieder – vor allem zu Jahrhundertwenden tritt der Vampir verstärkt in das Bewusstsein der Menschen“, sagt Stefan Keppler-Tasaki. „Jahrhundertwenden sind Zeiten von Krisendiskussionen.“ Und der Vampir verkörpere somit auch immer die Ängste der Menschen.

Mit der Angst vor dem Ungewissen begann auch die Geschichte der Vampire. Krankheiten oder Unglücke aller Art – für das Unerklärliche suchten die Menschen einen Schuldigen und fanden diesen in der Figur des Vampirs. Eine erste Hysterie brach Anfang des 18. Jahrhunderts auf dem Balkan aus. Als aufgrund einer Seuche binnen kurzer Zeit mehrere Menschen starben, waren für die Bevölkerung die Urheber der Tragödie schnell gefunden: „Lebende Tote“ hatten die Menschen dahingerafft. Die Panikwelle erfasste schnell ganz Europa. Mediziner, Theologen und Philosophen beschäftigten sich mit dem Vampir. Sechzig Jahre später greift ihn die Literatur auf oder besser, sie – denn in den frühen Vampir-Imaginationen waren die Blutsauger meist weiblich. So wie die „Braut von Korinth“ in Goethes gleichnamiger Ballade aus dem Jahr 1797. Die vampirische Geliebte saugt zwar hier noch kein Blut, ist jedoch weder lebendig noch tot und gilt als erste literarische Verarbeitung des Vampir-Mythos in Deutschland.

Von Goethe bis in die heutige Popkultur war es ein langer Weg für den Vampir, der vor allem eins gezeigt hat: Der Blutsauger ist nicht totzukriegen.