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Ein Mahner mit prophetischer Eindringlichkeit

Am Hans-Jonas-Zentrum an der Freien Universität entsteht die erste kritische Gesamtausgabe der Werke des Philosophen

31.05.2010

Er ist einer der wenigen Philosophen, deren Credo sogar auf eine Briefmarke passte: Hans Jonas’ ökologischer Imperativ „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ fand im Jahr 2003, zu seinem 100. Geburtstag, auf einer Sondermarke der Deutschen Post Platz. Das mag banal erscheinen, doch es belegt, wie weit die Einsichten des in Deutschland geborenen Philosophen, der bei Edmund Husserl und Martin Heidegger studierte und mit Hannah Arendt befreundet war, ins allgemeine Bewusstsein eingedrungen sind.

„Das geht so weit, dass Jonas’ Gedanken bekannter sind als sein Name“, sagt Dietrich Böhler, gerade emeritierter Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er ist zugleich Leiter des Hans-Jonas-Zentrums, das er 1998 als Ensemble von „sprechender Zukunftsbibliothek“ und verschiedenen Theorie-Praxis-Gruppen gründete und das sich eine ehrgeizige Aufgabe zum Ziel gesetzt hat: Böhler und seine Mitarbeiter arbeiten daran, die erste kritische Gesamtausgabe der Werke von Hans Jonas herauszugeben.

Als Dietrich Böhler das Zentrum vor zwölf Jahren gründete, tat er dies aus drei Motiven: Erstens fehlte in der deutschen Hochschullandschaft ein Ort, an dem Disziplinen wie Wirtschaft, Medizin, Pädagogik, Technologie und Ökologie in einen Dialog mit der Ethik treten konnten. Zweitens sorgte sich Böhler um die Zukunft unserer Zivilisation: Der gern gebrauchte Begriff der „Risikogesellschaft“ ist in seinen Augen „eine reizende Verharmlosung“. Wir alle lebten vielmehr in einer Gefahrenzivilisation, die ihre Auswirkungen längst nicht mehr überblicke.

Der dritte und unmittelbare Anstoß zur Gründung des Hans-Jonas-Zentrums aber war die Begegnung mit dem Denker selbst: Jonas, von jüdischer Herkunft, war nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 erst nach Großbritannien, dann nach Palästina und später in die USA emigriert. 1992 kam er zur Verleihung der Ehrenpromotion durch die Freie Universität nach Deutschland zurück.

Seine kurze Ansprache im überfüllten Audimax der Universität, in der er zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit der Umwelt aufrief, habe die Anwesenden damals ungeheuer beeindruckt, erinnert sich Dietrich Böhler: „Hans Jonas besaß eine prophetische Eindringlichkeit als Mahner, gepaart mit großer Bescheidenheit als Mitbetroffener.“ Auch er nutzte die Errungenschaften der Zivilisation, fuhr Auto, flog mit dem Flugzeug. Den Studierenden sagte er mit Blick auf die damals gerade stattfindende erste Weltklimakonferenz in Rio, er sei nicht hoffnungsvoll, doch Fatalismus wäre die Todsünde des Augenblicks: „Das bevorstehende Schicksal, das uns droht, das wir uns selber bereiten würden, wenn wir die Erde weiter schlecht verwalten, wie wir es im Augenblick tun, dieses Unglück werden wir nur um so sicherer machen, je mehr wir es als unausweichlich ansehen. Ich warne daher vor der inneren Gefahr des Fatalismus, die fast so groß ist wie die äußere Gefahr, die ohnehin durch unsere Schuld besteht.“

Zu diesem Zeitpunkt war Jonas’ Werk so gut wie abgeschlossen. Weniger als ein Jahr später starb er, die geplante Festschrift zu seinem 90. Geburtstag wurde zur Gedächtnisschrift. Seither hat das Hans Jonas-Zentrum sieben Bücher über Zukunftsethik veröffentlicht. Die geplante kritische Gesamtausgabe seines verstreuten Werkes wird 13 Bände umfassen. Der erste und oppulenteste Band ist soeben erschienen: Er enthält die berühmten Studien „Organismus und Freiheit“, in denen Jonas die Grundlagen seiner philosophischen Biologie entwickelt.

Sein Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass alles Lebendige nach Selbsterhaltung und Austausch mit der Umwelt strebt. Für Jonas ein universeller Wert: „Das Leben will sein. Selbsterhaltung ist allgegenwärtig, jeder Austausch mit der Umwelt, jeder Stoffwechsel dient ihr“, schrieb er. Die „Selbstbejahung des Seins“, das sich gleichsam als Selbstzweck setze, kann und soll den Menschen, von dem heute das Schicksal der Biosphäre abhängt, zur ökologischen Verantwortung motivieren.

Die kritische Gesamtausgabe, für die das Zentrum derzeit Drittmittel sammelt, diene nicht der Popularisierung Hans Jonas’, stellt Dietrich Böhler klar, sondern soll den „Denker der Zukunftsverantwortung“ für die Forschung und den wissenschaftlichen Diskurs leichter erschließen. Dennoch hofft auch Dietrich Böhler auf eine „zweite Rezeptionswelle“, nachdem Jonas’ Gedanken in den achtziger Jahren in der Avantgarde der Politik bereits bekannt waren. Angesichts der drängenden Fragen des Klimawandels und der Bioethik könnten wir von Jonas' Werk noch viel lernen. In Asien und den USA gewinnen die Gedanken des in Mönchengladbach geborenen Philosophen derzeit an Popularität. Auch zur aktuellen Debatte über die „Philosophie des Geistes“, die in den Neurowissenschaften wieder zunehmend Gewicht erhalte, könne der biologische Philosoph Jonas eine Menge beitragen, sagt Böhler.