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Das ist sprachliche Feinmechanik

Professor Ulrich Gaier über Werk, Forschung und Übersetzung

19.04.2010

Professor Ulrich Gaier

Professor Ulrich Gaier
Bildquelle: privat

Vom 27. bis 30. Mai lädt die Hölderlin-Gesellschaft zu ihrer Jahrestagung an der Freien Universität Berlin. Welche Bedeutung spielt der Dichter heute noch und was interessiert die Wissenschaftler am meisten? Ein Gespräch mit Professor Ulrich Gaier, Präsident der Hölderlin-Gesellschaft und von 1968 bis 2000 Professor für Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz.

Herr Professor Gaier, Friedrich Hölderlin war ein schwäbischer Dichter der Romantik– in Berlin war er nie. Warum tagt die Hölderlin-Gesellschaft in diesem Jahr trotzdem hier?

Das stimmt, Hölderlin hat keinen biografischen Bezug zu Berlin, nördlicher als bis Leipzig oder Dessau ist er nicht gekommen. Der Berlin-Bezug erklärt sich vor allem durch den starken Forschungsschwerpunkt, der seit den 1960er Jahren an der Freien Universität besteht. Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi – der Namensgeber des Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität – hat Hölderlin sozusagen wiederentdeckt und die Hölderlin-Forschung in Berlin begründet. In dieser Tradition stehen Namen wie Anke Bennholdt-Thomsen, Claudia Albert, Marlies Janz, Winfried Menninghaus, Joachim Wohlleben und Martin Vöhler. Berlin – das heißt in diesem Fall die Freie Universität – ist eines der Zentren der Hölderlin-Forschung in Deutschland, neben Tübingen und Frankfurt am Main.

Mit welchen Themen beschäftigt sich die Hölderlin-Forschung heute?

Die internationale Hölderlin-Forschung legt den Schwerpunkt vor allem auf die Übersetzung: Hölderlin ist einer der meist übersetzten Autoren überhaupt - aber eben auch einer der komplexesten. Deswegen fehlen bis heute noch in vielen Sprachen gültige Übertragungen seiner Werke. In Frankreich wiederum hat man sich stark mit Hölderlin, dem Philosophen, beschäftigt.

Und in Deutschland?

Ein ganz neues Themengebiet ist hier das Verhältnis von Sprache und Krankheit. Sie wissen, dass Hölderlin als wahnsinnig galt – die letzten 36 Jahre seines Lebens lebte er in Pflege und unter Betreuung. Gearbeitet hat er freilich weiterhin. Mediziner versuchen nun herauszufinden, ob Hölderlin tatsächlich hirnphysiologisch krank war und wie er sich durch sein Werk mit seiner Krankheit auseinandersetzte.

Wie kann man das im Nachhinein untersuchen?

Anhand seiner Briefe etwa, die schon seit Jugendtagen eine melancholische Disposition zeigten. Hier arbeiten Mediziner und Literaturwissenschaftler eng zusammen. Fragen, die Forscher in Deutschland in diesem Zusammenhang stellen, sind: Wie entsteht Sprache? Braucht Sprache eine Art von unangetastet gesundem Menschenverstand? Wie lassen sich Hölderlins Texte zu seiner Krankheit in Beziehung setzen? Damit haben wir eine ganz neue Diskussion angestoßen.

Welche Aufgabe hat die Hölderlin-Gesellschaft konkret?

Wir veranstalten Tagungen, unterstützen Übersetzungen und die internationale Forschung: Ein Drittel unserer 1300 Mitglieder lehrt und arbeitet im Ausland. Der Hölderlin-Turm in Tübingen – Hölderlins letzter Wohnort und gleichzeitig Sitz der Gesellschaft – ist ein lebendiges Museum: Hier finden Lesungen statt, Ausstellungen, Veranstaltungen für Schüler, Lehrer, Studenten, Interessierte.

Welche Rolle spielt Hölderlin heute, wie modern ist er?

Hochmodern. Hölderlin hat interkulturell gearbeitet – lange, bevor man es so bezeichnet hat. Er hat antike Texte sprachlich und gedanklich weitergeschrieben auf eine für das 18. Jahrhundert ungewöhnliche Weise – denken Sie an sein Trauerspiel „Der Tod des Empedokles“ oder auch die Sophokles-Übersetzungen. Und er hat zyklisch gearbeitet, indem er die einzelnen Teile seines Werks so aufeinander bezogen und miteinander verknüpft hat, dass ein verwobenes Gesamtwerk daraus entstanden ist.

Warum schätzen Sie Hölderlin ganz persönlich?

Seine Gedichte, gerade die späten, sind von wunderbarer Schönheit. Kein Dichter hat so intensiv Texte gestaltet wie Hölderlin – das ist sprachliche Feinmechanik. Allerdings muss man sich für die Lektüre Zeit nehmen und die Texte entschlüsseln. Ich würde sagen: Man muss Hölderlin lesen lernen.

Die Fragen stellte Christine Boldt.