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Tempo, Musik und Tamtam

Ein Rückblick des scheidenden Präsidenten der Freien Universität, Professor Dieter Lenzen

13.02.2010

Tag der Freude. Im Oktober 2007 setzt sich die Freie Universität in der Exzellenzinititive durch.

Tag der Freude. Im Oktober 2007 setzt sich die Freie Universität in der Exzellenzinititive durch.
Bildquelle: Kielmann

Der Physiker Stephen Hawking war im Oktober 2005 zu Gast an der Freien Universität.

Der Physiker Stephen Hawking war im Oktober 2005 zu Gast an der Freien Universität.
Bildquelle: Peter Himsel

Eröffnung der Philologischen Bibliothek. Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit, Lord Norman Foster und Dieter Lenzen (v.l.n.r.)

Eröffnung der Philologischen Bibliothek. Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit, Lord Norman Foster und Dieter Lenzen (v.l.n.r.)
Bildquelle: David Ausserhofer

Prominenter Gast: Dieter Lenzen im Gespräch mit Angela Merkel.

Prominenter Gast: Dieter Lenzen im Gespräch mit Angela Merkel.
Bildquelle: Kielmann

Bei der Verleihung der Ehrenpromotion an Salman Rushdie (Zweiter von rechts).

Bei der Verleihung der Ehrenpromotion an Salman Rushdie (Zweiter von rechts).
Bildquelle: Davis Ausserhofer

An der Freien Universität Berlin geht eine Ära zu Ende. Nach elf Jahren an der Spitze der Universität – davon sieben Jahre als Präsident – übernimmt Professor Dieter Lenzen vom 1. März an die Leitung der Universität Hamburg. An dieser Stelle und auf Seite 8 dieser Beilage hält er noch einmal Rückschau – auf ein Jahrzehnt, das die Freie Universität Berlin voran gebracht hat und den Menschen der Stadt die Universität ein Stück näher.

Hildegard Knef, die nicht nur als Berliner Ikone galt, sondern als Expertin in Sachen Berlin – immerhin hat man ihr einen ganzen Bahnhofsvorplatz gewidmet –, begründete in einem ihrer Chansons ihre Hommage an diese Stadt unter anderem mit „Berliner Tempo, Musik und Tamtam“. Dieses Bekenntnis zu Berlin verband sie mit der – im Übrigen zutreffenden – Behauptung, dass sie noch einen „Koffer in Berlin“ habe. Wissenschaftler haben in der Regel mehr als nur ein Gepäckstück in der Stadt. Sie verbringen einen Teil ihres privaten wie ihres Arbeitslebens in der Stadt, manchmal, wie im Falle des Unterzeichnenden, sogar mehr als 75 Prozent des Arbeitslebens, davon ein Drittel in der Leitung einer Universität.

Im Unterschied zu der erwähnten Nachkriegsdiseuse werden Wissenschaftler in der Regel nicht aufgrund ihres beschleunigten Bewegungstempos ausgewählt, sie müssen auch nicht singen können, und auch Tamtam zu machen ist dem wissenschaftlichen Genre eigentlich fremd, wenngleich sich dieses in der zurückliegenden Zeit geändert haben mag. Wissenschaftler sind vielmehr dazu da, Hypothesen über die Wirklichkeit zu überprüfen und die Wirklichkeit auf diese Weise zu erforschen.

Das tun sie in der Regel, indem sie einen ausgewählten Ausschnitt der Wirklichkeit heranziehen und schauen, ob die Hypothese zutrifft oder nicht. Beispielsweise untersuchen sie an einer kleinen Zahl von Probanden, ob bei einem längeren Aufenthalt im Weltall zu befürchten ist, dass sich deren Muskeln zurückentwickeln. Keineswegs wird deshalb die gesamte Bevölkerung probeweise ins All geschickt, sondern eine Handvoll Freiwillige für einige Monate ins Bett gelegt und entsprechend beobachtet. Denn Wissenschaft geht davon aus, dass das, was für einige gilt, grundsätzlich auch für alle gelten kann, wenn dieselben Rahmenbedingungen existieren.

So ist es auch mit der Freien Universität. Sie kann gewissermaßen als Proband dafür herangezogen werden, ob die Knefsche Hypothese zutrifft, der zufolge Berlin durch Tempo, Musik und Tamtam notwendig oder gar hinreichend charakterisiert sei. Mit anderen Worten: Wenn sich herausstellt, dass in der Freien Universität Tempo, Musik und Tamtam herrschen und man berücksichtigt, dass die Freie Universität in Berlin liegt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Berlin durch Tempo, Musik und Tamtam gekennzeichnet ist.

Nach dieser nur für den oberflächlichen Blick komplizierten Vorüberlegung methodologischer Art prüfen wir nunmehr die dreifache Hypothese. Wir beginnen mit dem Charakteristikum „Tempo“ und fragen, ob in der Freien Universität Tempo herrscht. Die Frage kann eindeutig mit „Ja“ beantwortet werden, wenn man betrachtet, was die Mitglieder dieser Einrichtung in den zurückliegenden zehn Jahren alles zustande gebracht haben: Sie haben für die Universität durch ihre Anträge für Graduiertenschulen, Cluster und die gesamte Zukunft der Universität rund 150 Millionen Euro eingeworben, oder: die Beschäftigten haben mutig damit begonnen, eine für öffentliche Einrichtungen – schon gar für akademische – ungewöhnliche Kosten-Leistungsrechnung aktiv einzusetzen und umzusetzen.

Innerhalb von sechs Jahren wurden die teilweise jahrhundertealten Typen der Studienabschlüsse und das gesamte Studium umgekrempelt und die Reform bereits jetzt ein weiteres Mal der Revision unterzogen. Die Freie Universität hat sich einen neuen Strukturplan gegeben, um die weitreichenden Mittelkürzungen umsetzen und auffangen zu können. Die Universität und ihre Mitglieder waren erfolgreich darin, sich und ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten, Ergebnisse und Pläne kontinuierlich der Öffentlichkeit zu zeigen und zu begründen, eine bislang keineswegs selbstverständliche und durchaus oft zeitraubende Tätigkeit. Die Beschäftigten haben sich immer wieder der Weiterbildung unterzogen, um mit den Herausforderungen der technischen Modernisierung der Universität Schritt halten zu können.

Baulich wurde der Campus konzentriert, verbunden mit allen Unannehmlichkeiten, die Neubauten, Renovierungen, Umzüge und örtliche Neuorientierungen mit sich bringen. Durch ihre Arbeit und ihren Einsatz haben viele Mitglieder der Universität deren Einnahmesituation wesentlich verbessert, sodass heute mehr als ein Viertel des Budgets von den Mitgliedern der Universität selbst eingeworben und keineswegs vom Land zur Verfügung gestellt wird. Es ist gelungen, mit der Eröffnung der philologischen Bibliothek, dem „Berlin Brain“ Norman Fosters der Stadt ein weiteres großes „Gehirn“ hinzuzufügen, der Henry-Ford-Bau – ein Geschenk der Amerikaner – wurde renoviert, ein Denkmal für die ermordeten Gründungsstudierenden der Freien Universität errichtet. Zu den weiteren buchstäblichen Sichtbarkeiten gehört die Eröffnung der Deutschen Universität für Weiterbildung, einer 50-Prozent-Tochter der Freien Universität in der Pacelliallee.

Wenn das alles kein Tempo ist! Die Sache ist klar: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer und die Studierenden, sie sind geradezu der Ausdruck eines faszinierenden Veränderungswillens in kürzester Zeit geworden. Dass sie die damit verbundenen Strapazen, Verunsicherungen, teilweise auch die Kritik von Zögerern und Zauderern auf sich genommen und ausgehalten haben, ebenso wie Mittelkürzungen und Infragestellungen allenthalben, für diese Bereitschaft „Ja“ zu sagen zur Freien Universität Berlin und dem Tempo ihrer Entwicklung, dafür hat der gesamten Frau-/Mannschaft Dank zu gelten!

Wir halten deshalb fest: Die erste Teilhypothese, wonach Berlin eine temporeiche Stadt ist, kann durch die sichtbare Gangart der Freien Universität bestätigt werden. Insofern ist die „FU“, wie ich sie ungern abkürze, eine wahrlich berlinerische Einrichtung.

Was ist nun mit der zweiten Teilhypothese: Herrscht in der Freien Universität Musik? Auf den ersten Blick vielleicht nicht. Sie ist keine Musikhochschule, ja, sie musste sich im Rahmen der Mittelkürzungen sogar schweren Herzens von der Musikwissenschaft verabschieden. Aber das wollen wir nicht meinen, denn wir wollen Knefs Charakteristikum für Berlin nicht allzu wörtlich nehmen; vielmehr wollen wir es – etymologisch gewiss nicht ganz unproblematisch – als das Musische deuten.

Das Musische im weitesten Sinne wird besonders in den Geisteswissenschaften gepflegt. Nun gab es Zeiten, in denen gerade diese im Zentrum der Kritik, ja, manchmal sogar der Verachtung, standen. Dieses war zu keinem Zeitpunkt berechtigt. Ganz im Gegenteil, dass diese Wissenschaften einen Kernbestand der Freien Universität ausmachen, wurde erst sichtbar, als ihnen ihre Qualität durch internationale Expertenkommissionen im Rahmen des Exzellenzwettbewerbs des Bundes und der Länder 2007 buchstäblich beurkundet (und auch vergoldet) wurde.

Mehr noch: Es gibt prominente Kenner der deutschen Wissenschaftsszene, die mit Anerkennung gesagt haben, die Freie Universität Berlin habe das Ansehen der Geisteswissenschaften im Rahmen des Exzellenzwettbewerbs für Deutschland gerettet. Das stimmt. Eine große Fächervielfalt auf höchstem Niveau, international anerkannt und für solche Studierende ein Anziehungspunkt, die ihre Universität nicht nach dem Wohnortnähe-Prinzip und dem Unterhaltungswert der Region auswählen, sondern nach der Qualität des Lehrpersonals.

Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Die Theaterwissenschaft und ihr verwandte Disziplinen wie die Filmwissenschaft können sich vor Bewerberinnen und Bewerbern nicht retten, Gastwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen sagen umstandslos „Ja“ wenn sie eingeladen werden. Die „big names“ geben sich in diesem Fach die Klinke ebenso in die Hand wie in zahlreichen anderen geisteswissenschaftlichen Fächern, ob sie nun historisch, sprachwissenschaftlich oder literaturwissenschaftlich akzentuiert seien. Apropos Literaturwissenschaft: Die jüngste Nobelpreisträgerin für Literatur, Herta Müller, war eine frühe Entdeckung der Freien Universität, als sie hier im Jahr 2005 die Heiner-Müller-Professur erhielt.

Um Missverständnissen vorzubeugen: „Musik“ im gezeigten Sinne steckt natürlich auch in den Natur- und Sozialwissenschaften der Freien Universität. Nach dem nächsten Exzellenzwettbewerb werden alle staunen, was sie zustande gebracht haben. Resümierend können wir für die zweite Teilhypothese also feststellen: Die Freie Universität leistet ihren Beitrag zu jener Musik, durch die Berlin unserer Expertin Knef zufolge ebenfalls markant charakterisiert ist. Die Freie Universität ist ein Stück der Musik Berlins.

Bleibt der oder das Tamtam. Zur Prüfung dieser Hypothese muss zunächst die Hermeneutik her – die Methode, die sich mit dem Verstehen beschäftigt. Was ist Tamtam, wenn man an die Freie Universität denkt? Demos, Proteste, Lautstärke? Sicher auch, und das ist auch per se nicht schlecht. Veränderung kommt unter anderem dadurch zustande, dass das Bestehende infrage gestellt wird. Manchmal hilft auch Lautstärke, um Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn diese dann durch Argumente, Diskurs und vor allem Scharfsinnigkeit unterlegt wird, umso besser.

Die Sozialwissenschaften der Freien Universität, aber nicht nur sie, haben immer für diesen Teil von Zukünften gestanden, die das Vergangene und Gegenwärtige kritisieren und im gelingenden Fall neue Konzepte für die Zukunft der Gesellschaft entwickeln. Sie haben es geschafft, das schlechte Bild bloßer Krachmacherei zu überwinden und in Lehre und Forschung Reflexionen und Modellierungen für unsere Zukunft und die unserer Welt zu präsentieren. – Präsentieren: Auch das ist eine mögliche Deutung von „Tamtam“: Nicht nur auf etwas zeigen, sondern sich zeigen, als das, was man kann und was man ist. Die Mitglieder der Universität, so scheint es uns doch, dürfen heute selbstbewusst und zunehmend dezent stolz sein auf das, was sie geleistet haben. Für Tamtam sorgt dann schon die Stadt, die heute wie sonst nur zu Beginn der Gründungszeit der Freien Universität stolz auf sie ist und diesen Stolz auch zeigt. Und das ist eigentlich das Erfreulichste an der Entwicklung der letzten Dekade. Das versöhnt den Scheidenden mit den immer auch zu erlebenden Rückschlägen, Barrieren, mit Gezänk und manchmal auch mit Intrigen: Dass die Stadt ihre Freie Universität wieder angenommen zu haben scheint. Das jedenfalls ist aus den zahlreichen Briefen und Freundlichkeiten aus ihrer Mitte zu entnehmen, die den erreicht haben, der nun sein Glück in der (nicht allzu weiten) Ferne sucht.

Deswegen wird es auch mehr sein als nur ein Koffer, der in Berlin verbleibt. Dazu gehört die Liebe zu einer Stadt, die zu dem Typus von Geliebten gehört, auf deren Äußerungen man genau achten muss, um ihnen den Ausdruck von Zärtlichkeit entnehmen zu können. Das gilt auch für die Freie Universität, denn – das war ja zu beweisen – sie ist Berlin. Und natürlich: Unsere Hilde sang „Betrieb“, nicht „Musik“. Aber was macht das schon.