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Wo die goldnen Sternlein prangen

Wie der aus England importierte Fußball in Südamerika zum Nationalsport wurde

12.10.2009

Karikatur aus der Zeitschrift „Sucesos“ (1928). Die alte Dame Europa sagt zum Fußball-Jungstar Südamerika:  „Es ist nur natürlich, dass Sie mehr Tore erzielen als ich, mein Töchterchen. Deshalb gehört der Ball Ihnen".

Karikatur aus der Zeitschrift „Sucesos“ (1928). Die alte Dame Europa sagt zum Fußball-Jungstar Südamerika: „Es ist nur natürlich, dass Sie mehr Tore erzielen als ich, mein Töchterchen. Deshalb gehört der Ball Ihnen".
Bildquelle: Aus: Fußball und das neue Selbstbewusstsein Lateinamerikas (1928)

Von Stephan Töpper

Brasilien fünf, Argentinien zwei, Uruguay zwei. Macht zusammen neun Weltmeistertitel für Südamerika. Dagegen muss sich England, das Mutterland des Fußballs, bislang mit einer gewonnenen Weltmeisterschaft begnügen und blickt bei jedem Aufeinandertreffen mit der brasilianischen Auswahl wohl ein wenig neidisch auf die fünf Sterne, die das brasilianische Nationaltrikot zieren. Pro Weltmeistertitel darf man sich nämlich einen goldenen Stern aufs Trikot sticken.

Als britische Einwanderer – Unternehmer, Ingenieure, Eisenbahnarbeiter, aber auch Schüler und Studenten – Anfang des 20. Jahrhunderts der südamerikanischen Elite nach den Regeln der 1863 gegründeten britischen Football Association das Fußballspielen beibrachten, ahnten sie sicher nicht, dass ihr Sport auch in Südamerika zum Nationalsport werden sollte. Und schon gar nicht, dass die Brasilianer als einzige Nation an allen 18 Weltmeisterschaften teilnehmen, in sieben Endspielen stehen und fünf von ihnen gewinnen würden.

„Fußball war in Südamerika während der Anfangsphase ein Sport für Eingeweihte“, sagt Christina Peters, die am LateinamerikaInstitut der Freien Universität Berlin zu den Anfängen des Fußballs in Brasilien, Argentinien und Uruguay promoviert. Peters arbeitet nicht allein, sondern mit dem Historiker Stefan Rinke im Rahmen der Forschergruppe 955, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird. In acht Teilprojekten gehen Wissenschaftler aus Berlin, Hamburg, Bremen, Florenz und Edinburgh der Kulturgeschichte der Globalisierung auf den Grund.

Nicht nur die Fußballregeln, auch die Fachsprache importierten die Südamerikaner aus England. Für Abseits, Halbzeit und Elfmeter wurden die englischen Bezeichnungen „offside“, „half-time“ und „penalty“ übernommen, was die Regel- und Sprachunkundigen erst einmal ausgrenzte.

Während in Glasgow bereits 1872 das erste Fußballländerspiel England gegen Schottland null zu null endete und 1888 die erste Profiliga in England ins Leben gerufen wurde, hatte um 1900 herum der Fußball in Südamerika noch einen ähnlich elitären Status wie Cricket oder Pferderennen.

Bis 1933 durfte Fußball offiziell nur als Amateursport ausgeübt werden, und so konnte sich anfangs auch nur die urbane Oberschicht den Luxus eines Freizeitsports leisten. Ein südamerikanisches Fußballfest war damals im wörtlichen Sinn eine unterhaltsame Zusammenkunft der vornehmen Gesellschaft.

Warum hat der Fußball in Südamerika begonnen, die Massen zu bewegen? Und weshalb sind in den USA, wo die Engländer schon viel früher als in Südamerika gesiedelt und an Einfluss gewonnen haben, Baseball und American Football zum Nationalsport aufgestiegen?

„Das Zeitfenster, in dem sich Sportarten als Nationalsportarten etablieren konnten, war begrenzt“, sagt Peters. Für Südamerika und die USA war die Phase zwischen 1890 und 1930 entscheidend. Während dieser Zeit haben sich die Regionen auf vielfältige Art und Weise miteinander vernetzt. „Fußball ist ein Beispiel für die kulturelle Globalisierung und ging mit anderen Globalisierungsprozessen wie der Erfindung der Dampfschifffahrt und der Verbreitung der Telegrafie und des Pressewesens einher“, sagt Peters.

War eine Sportart erst einmal populär, hatten es andere schwer, ihr diesen Status streitig zu machen. „Es werden schnell Traditionen geschaffen und Mythen von hart erkämpften Erfolgen weitererzählt. Wenn dann noch einflussreiche Akteure darüber in der Presse berichten und eine breite Öffentlichkeit aufmerksam wird, ist so eine Entwicklung kaum noch umzukehren“, sagt Peters, die für ihre Arbeit vor allem alte Presseberichte und Dokumente aus Vereins- und Verbandsarchiven auswertet.

Als erstes ausländisches Team spielte eine südafrikanische Mannschaft, die zuvor schon gegen englische und argentinische Teams angetreten war, im Juli 1906 in Brasilien. In einem indirekten Vergleich konnte man sich jetzt mit argentinischen und englischen Mannschaften messen. Das Fußballfieber begann sich auszubreiten. Zuerst in den Städten, in denen Sportartikelgeschäfte zur Umsatzsteigerung Spielergebnisse vor dem Geschäft auf Tafeln anbrachten, um die städtischen Bewohner, die nicht ins Stadion gingen, mit Fußballneuigkeiten zu versorgen und potenzielle Käufer zu binden. Auch auf Colleges wurde früh Fußball gespielt, Talente wurden ausgebildet. Wer gut Fußball spielt, kann es zu etwas bringen. Dieses Credo motivierte. Obwohl der Fußball keineswegs die sozialen und ethnischen Unterschiede aufhob, förderte er eine kulturelle Identifikation, die eng an dieses aus zwölf Fünf- und zwanzig Sechsecken bestehende Stück Leder geknüpft war.

Seit 1900 setzte in Rio de Janeiro und Sao Paulo eine Gründungswelle von Fußballclubs ein. Mit der zunehmenden Popularisierung verlor die südamerikanische Oberschicht in den 1920er Jahren das Interesse am Fußball. „Der Fußball war und ist ein Sensor für gesellschaftliche Entwicklungen“, sagt Peters. Und er ist damals wie heute ein transnationales Phänomen. Mittlerweile ist die transnationale Vernetzung so weit gediehen, dass der FC Chelsea London 1999 erstmals eine Anfangself ohne einen einzigen Engländer aufs Spielfeld schickte.

Der überraschende Erfolg der uruguayischen Nationalelf bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris schürte das Interesse der Europäer am südamerikanischen Fußball. 1925 gaben der uruguayische Verein Nacional, die Boca Juniors aus der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires und der brasilianische Club C. A. Paulistano aus Sao Paulo mehrere Gastspiele in Europa – und demonstrierten dort, dass der olympische Erfolg der Uruguayer kein Zufall gewesen war. Nachdem Uruguay das darauf folgende olympische Fußballturnier in Amsterdam gewinnen konnte, setzte es seinen Höhenflug fort und holten den ersten Weltmeistertitel bei der 1930 im eigenen Land ausgetragenen Weltmeisterschaft. Die meisten europäischen Länder konnten aus finanziellen Gründen nicht dabei sein. Lediglich Belgien, Frankreich, Jugoslawien und Rumänien reisten nach Uruguay.

Schnell wurden die südamerikanischen Fußballschüler in Europa zu umworbenen Kickern. Einer der ersten, der von Südamerika nach Europa wechselte, war der Argentinier Raimundo Orsi, den 1928 Juventus Turin verpflichtete. Bis heute schmücken sich europäische Vereine, die etwas auf sich halten, gern mit südamerikanischen Spielern. Meist mit so vielen, wie es der heimische Fußballverband gerade noch gestattet.

Am 11. Juni 2010 wird die Weltmeisterschaft in Südafrika angepfiffen. In Johannesburg entscheidet sich einen Monat später, ob sich ein weiteres Mal ein südamerikanisches Team einen goldenen Stern verdient.