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Wenn Inseln untergehen

Juristin der Freien Universität untersucht völkerrechtliche Folgen des Meeresspiegelanstiegs

12.10.2009

Von Jan Hambura

Einsame Sandstrände, meterhohe Palmen, türkisblaues Wasser und jeden Tag Sonnenschein: Es gibt sie, die idyllischen Inselparadiese auf dieser Erde. Noch. Denn in absehbarer Zukunft werden solche Traumlandschaften immer seltener. Viele Inseln sind durch den Anstieg des Meeresspiegels vom Untergang bedroht. Doch was ist mit den Menschen, die dort leben? Können sie Schadenersatz verlangen? Und wenn ja, von wem? Existiert ein Volk weiter, auch wenn es kein Territorium mehr hat? An der Freien Universität Berlin hat sich die Rechtswissenschaftlerin Franziska Kehrer mit diesen und weiteren hochaktuellen Fragen beschäftigt.

„Tuvalu geht unter“ und „Tuvalu versinkt im Meer“: So titelten schon vor einigen Jahren die Zeitungen über den 26 Quadratkilometer großen Inselstaat, der vor allem für seine Internet-Endung „tv“ bekannt ist. Experten gehen davon aus, dass die nordöstlich vor Neuseeland gelegene Insel in 50 bis 100 Jahren von der Landkarte verschwunden sein wird. Für Franziska Kehrer – damals noch Studentin der Rechtswissenschaft an der Universität Heidelberg – und ihre Mitstudenten war dies reichlich Gesprächsstoff. Welche rechtlichen Mittel haben die Bewohner der Insel, um dem drohenden Untergang ihrer Heimat zu begegnen? Kehrer und ihre Kommilitonen fanden keine Antworten. „Es ist wahrscheinlich das erste Mal, dass ein solcher Fall juristisch relevant wird“, sagt Franziska Kehrer. Deshalb bewarb sich die Rechtswissenschaftlerin nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Studiums als Doktorandin bei Philip Kunig, Professor für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht an der Freien Universität Berlin – und wurde angenommen. Ihr Thema: „Staatenverantwortlichkeit und Meeresspiegelanstieg“.

Im Rahmen ihrer Dissertation untersucht Franziska Kehrer unter anderem, ob Staaten zu einer Reduzierung ihrer CO2-Emissionen gezwungen werden können. Und sie sucht Antworten auf die juristische Frage, ob die Verursacher großer Mengen von CO2-Emissionen dazu verpflichtet werden können, bedrohten Ländern finanzielle und technische Mittel für Schutzmaßnahmen zur Verfügung zu stellen und Schadensersatz zu zahlen. „Bedroht sind neben flach auf Korallenriffen liegenden Inseln auch Länder mit Küstenregionen wie Bangladesch und Myanmar“, sagt Professor Uwe Ulbrich, Direktor des Instituts für Meteorologie der Freien Universität. Bangladesch beispielsweise liege nur wenige Meter über dem Meeresspiegel: Dies führe dazu, dass Hurrikans in diesen Ländern große Zerstörungen anrichten können. „Der Hurrikan Nargis hat uns das auf erschreckende Weise gezeigt. Verbunden mit hohem Niederschlag und einer Flutwelle hat er weite Teile des Landes verwüstet.“ Ein Anstieg des Meeresspiegels verstärke die Zerstörungskraft solcher Extremereignisse.

Akut gefährdet seien vor allem Entwicklungsländer und ärmere Staaten, sagt Ulbrich: „Die Niederlande liegen zwar unterhalb des Meeresspiegels. Doch durch modernste technische Vorkehrungen schaffen es die Niederländer, ihr Land vor einer Überschwemmung zu bewahren.“ Vielen ärmeren Ländern fehlten solche Möglichkeiten. „Tuvalu verursacht mit allen weiteren Pazifikinseln zusammen nur rund 0,03 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes, wird aber voraussichtlich 100 Prozent seines Territoriums verlieren“, sagt Franziska Kehrer.

Wie ernst die Situation geworden ist, verdeutlichte die Regierung der Malediven Mitte Oktober dieses Jahres. Als Warnung mit Symbolkraft hielt das Kabinett eine Sondersitzung in sechs Metern Tiefe auf dem Meeresgrund ab, um dort einen Appell an die internationale Staatengemeinschaft zu unterzeichnen. Darin ruft es diese auf, den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Der Anstieg des Meeresspiegels gefährde die Souveränität und Existenz von Staaten wie Tuvalu und den Malediven.

Denn jeder Staat besteht aus drei Elementen: der Staatsgewalt, dem Staatsterritorium und dem Staatsvolk. Juristisch ist jeder Staat ein sogenanntes Völkerrechtssubjekt, also Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten. Doch was passiert, wenn das Territorium wegfällt? Bleibt ein Staat auch dann weiter bestehen? Franziska Kehrer kommt in ihrer Dissertation zu dem Ergebnis, dass die überschwemmte Insel Tuvalu nicht als Staat weiter existieren würde, denn ihr würde das Territorium fehlen. Doch was passiert mit dem Staatsvolk? „Tuvalu könnte weiterhin Völkerrechtssubjekt bleiben“, sagt die Rechtswissenschaftlerin. Die internationale Gemeinschaft könnte ein solches Staatsvolk anerkennen, wäre dazu aber nicht verpflichtet.

Die Frage, ob ein Staat ohne Land noch als ein Staat anzusehen ist, ist nicht nur für die Beurteilung im Völkerrecht wichtig: Denn ein Staatsvolk ohne Territorium wäre zunächst staatenlos und den damit verbundenen Unsicherheiten ausgesetzt. „Es ist gerade im Interesse des Staatsvolkes und der internationalen Gemeinschaft, dass es kein ,staatenloses‘ Volk gibt“, sagt Franziska Kehrer.

Weder das Kyoto-Protokoll zur Reduzierung des Ausstoßes von klimaschädlichem Kohlendioxid noch das Seerechtsübereinkommen bieten gefährdeten Staaten eine Grundlage für Schadensersatzansprüche oder Forderungen auf Unterlassen des CO2-Ausstoßes gegenüber anderen Staaten: Zu diesem Schluss kommt Franziska Kehrer in ihrer Dissertationsschrift. Eine solche Grundlage könnte jedoch das im völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht geltende Verbot der erheblichen grenzüberschreitenden Umweltbeeinträchtigungen darstellen.

Nach Ansicht der Rechtswissenschaftlerin ist es praktisch unmöglich, einen juristisch eindeutigen Beweis der Kausalität zwischen dem CO2-Ausstoß eines bestimmten Landes und dem konkret entstandenen Schaden in einem anderen Land zu führen. Aus diesem Grund hält sie die Einrichtung eines Fonds für sinnvoll, um Schäden aus dem Meeresspiegelanstieg zu kompensieren. In diesen müssten alle CO2-produzierenden Länder einen Beitrag proportional zur Höhe ihrer Emissionen einzahlen. Ein noch einzurichtendes internationales Gericht wäre dann zuständig für eine Urteilsfindung und die Berechnung eines Schadensersatzes sowie Hilfen in Form technischer Vorkehrungen.