Springe direkt zu Inhalt

Von Cicero bis Obama

Altrömische Namensflüsterer und Mobilisierung per E-Mail: Wahlkampf gibt es seit mehr als 2000 Jahren

27.07.2009

Wahlkampf ist Wettbewerb um die Stimmen von Wahlberechtigten, die sich zwischen Alternativen frei und geheim entscheiden können. Voraussetzung ist ein demokratischer Rahmen. Im antiken Athen des 5. und 4. Jahrhunderts vor Christus – der „Wiege der Demokratie“, wo jeder jeden kannte und über die meisten Ämter per Los entschieden wurde – gab es noch keinen Wahlkampf. Anders verhält es sich in der altrömischen Republik bis etwa 50 vor Christus. Über politische Ämter entscheiden Volksversammlungen in geheimer Wahl. Dem gehen Wahlkämpfe mit hohem Aufwand an Zeit und Geld voraus. Das beschränkt den Kreis der Bewerber weitgehend auf Angehörige des Patriziats. Parteiorganisationen und Massenmedien gibt es nicht. Abgesehen von „Graffiti“, wie man sie in Pompeji gefunden hat, mit denen Unterstützer für ihren Kandidaten werben, dominiert mündliche Kommunikation. In der Frühe empfängt der Kandidat in seinem Haus einflussreiche Leute. Dann beginnt der Straßenwahlkampf, die „ambitio“, wörtlich übersetzt: „das Umhergehen“: „Canvassing“, wie es heute heißt, ist also eine römische Erfindung, die früheste Form des Wahlkampfes überhaupt. Umgeben von möglichst vielen angesehenen Bürgern zieht der Kandidat über Straßen und Plätze. Bekleidet ist er mit einer weißen Toga – auf lateinisch „toga candida“, daher die Bezeichnung „Kandidat“. Ein Namensflüsterer raunt dem Kandidaten die Namen derer zu, mit denen er kurz sprechen will. Der Kontakt soll möglichst persönlich sein. Es gibt keine Wahlreden vor großem Publikum und keine Wahlprogramme im modernen Sinne. Eine Strategieschrift für den Wahlkampf des berühmten Redners, Philosophen und Politikers Cicero um das höchste Regierungsamt, das Konsulat, empfiehlt dem Kandidaten, sich beliebt zu machen: durch „Anrede der Menschen mit ihrem Namen, Schmeichelei, ständige Präsenz, Freigiebigkeit, guten Ruf und politisches Ansehen“. Ein fairer Wahlkampf ist in Rom ständig durch unerlaubte Mittel bedroht wie die Verteilung von Geld oder die Veranstaltung von Zirkusspielen.

Nach dem Untergang des Römischen Reichs dauert es bis ins späte 18. Jahrhundert, bis es wieder Wahlkämpfe gibt. Im feudalen Großbritannien bleibt das bis ins 19. Jahrhundert die Angelegenheit von „Gentlemen“. Wahlberechtigt sind nur Adlige und Nicht-Adlige mit erheblichem Vermögen. Im britischen Parlament gibt es zwar Fraktionen, Wahlkampf aber ist reiner Personenwahlkampf. Entscheidend sind Ansehen und die Übereinstimmung der Herkunft des Kandidaten mit der der Wähler. Wichtigstes Medium ist neben der persönlichen Kontaktpflege die Zeitungsannonce. Darin stellt der Kandidat sich als charakterfest und vertrauenswürdig vor, betont den Verzicht auf politische Versprechungen und bittet in devotem Stil um Stimmen.

In den USA gibt es – für europastämmige Männer – von Beginn an ein (beinahe) allgemeines Wahlrecht. Schon John Adams, dem zweiten Präsidenten der USA, und mehr noch seinem Nachfolger Thomas Jefferson, Präsident von 1801 an, gelingt es, die schnell wachsende Presse zur parteinahen „Kampfpresse“ umzuformen. Republikaner und Föderalisten gehen kräftig aufeinander los. Nicht mehr nur der persönliche Charakter prägt den Wahlkampf, sondern auch Ideologie und politische Glaubwürdigkeit.

Mit Erstarken von Parlamentarismus und Republikanismus werden im Laufe des 19. Jahrhunderts Wahlkämpfe auch in Europa wichtig. Die Eisenbahn ermöglicht es, prominente Parteiredner an verschiedenen Orten auftreten zu lassen. Mit der Erfindung des Telegrafen 1844 nimmt die Bedeutung der Presse zu. Wahlkämpfer stimmen ihre Reden zunehmend auf die Masse der Zeitungsleser ab und nicht mehr allein auf ihr direktes Publikum. Bei den sozialistischen Parteien dominiert die „Agitation“, eine Mischung aus rationalem Informieren und aggressivem, die gesellschaftlichen Missstände geißelndem Emotionalisieren. Dem dient etwa von der Wende zum 20. Jahrhundert an auch das neue Medium Plakat, das an städtischen Knotenpunkten ins Auge springen soll.

Mit dem Aufkommen faschistischer Massenparteien nach dem Ersten Weltkrieg lassen sich zwei neue Elemente im Wahlkampf erkennen: Führerkult und Quasi-Militarisierung. Uniformierte Parteileute wie die nationalsozialistische SA (die paramilitärische Sturmabteilung) strahlen bei Wahlkundgebungen Gefolgschaft zum Führer und Gewaltbereitschaft gegen Andersdenkende aus. Gewaltbereitschaft signalisieren auch Sprache und Wahlplakate vor allem der Nationalsozialisten und der Kommunisten. Das Aufkommen der Lautsprechertechnik seit den 1920er Jahren ermöglicht Massenkundgebungen bis dahin unbekannten Ausmaßes. Vor allem Adolf Hitler und Joseph Goebbels nutzen sie schon während der letzten Wahlkämpfe der Weimarer Republik zur Massensuggestion.

Prägend für die jüngere Geschichte des Wahlkampfs ist die Entwicklung der elektronischen Medien: Hörfunk, dann Fernsehen, schließlich Internet. Man kann in einem Ausmaß Wähler direkt ansprechen, das bei Kundgebungen niemals erreichbar wäre. Die neue mediale Reichweite erfordert im Wahlkampf die Vereinheitlichung von Botschaft und Erscheinungsbild. Zentralisierung von Planung und Organisation, professionelles Management und wissenschaftliche Wahlkampfberatung, etwa durch Demoskopie, werden unumgänglich.

Das Fernsehen wird von Mitte des 20. Jahrhunderts an zum wichtigsten Wahlkampfmedium; zunächst allerdings lediglich in den USA. Der lokale Wahlkampf verliert an Bedeutung. Das TV-Duell der Spitzenkandidaten der US-Präsidentschaftskandidaten läuft sämtlichen traditionellen Formen des Wahlkampfauftritts den Rang ab. In Deutschland gibt es solche Duelle zwischen den Kanzlerkandidaten erst seit 2002; der erste Schlagabtausch fand zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Unionskandidaten Edmund Stoiber statt. 2005 geriet Schröders fast erfolgreiche Aufholjagd gegen die Herausforderin Angela Merkel erst richtig in Fahrt, nachdem der Großteil der Zuschauer ihn als Sieger des TV-Duells gesehen hatte. TV-Duelle scheinen auch in Deutschland wichtig für den Wahlausgang zu werden.

Das Internet – genutzt in der Art des Wahlkämpfers Obama – steigert im Verhältnis zu den Vorgängermedien die vermeintliche Nähe zum Kandidaten noch einmal. Bei Hörfunk und Fernsehen bleiben Wähler passive Zuhörer und Zuschauer. Das Internet dagegen ermöglicht die wechselseitige Kommunikation. Im Wahlkampf lässt sich so der Schein individueller Interaktion zwischen Wähler und Kandidat inszenieren. Wer das Kontaktangebot auf der Wahlkampf-Homepage Barack Obamas annahm, erhielt sogleich eine E-Mail, in der er mit Vornamen angeredet wurde: zum Beispiel „Dear Tom“. Der altrömische Namensflüsterer ist durch Software ersetzt: Die Unterschrift lautet „Barack“. Millionen sollen glauben, nun Duzfreunde von Obama zu sein. Zahllose Links auf der Homepage suggerierten, man bewege sich frei im Zentrum der Kampagne. Dazu kam die Chance, mit anderen eigene Ideen für den Wahlkampf umzusetzen. So gelang es Obama, das Ideal des altrömischen Stadtwahlkampfs, die persönliche Ansprache des individuellen Wählers und seine Mobilisierung, unter den Bedingungen der Massengesellschaft zu realisieren.

Der Autor ist Professor an der Universität Koblenz-Landau und lehrt Polito-Linguistk am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Dem Beitrag liegt eine Vorlesung zugrunde, die im Rahmen der öffentlichen Vortragsreihe „apropos Wahlkampf – Politik und Medien im Superwahljahr 2009“ gehalten wurde. Sie ist vom OSI-Club der Freien Universität in Kooperation mit der Friedrich-Naumann-Stiftung organisiert worden.