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Erinnerung ohne Hass

In einem neuen Internetarchiv an der Freien Universität Berlin schildern 600 ehemalige Zwangsarbeiter in Audio- und Video-Interviews ihre Erfahrungen

Treffen von Überlebenden des KZ Helmbrechts in Lodz in den fünfziger Jahren. Das Foto zeigt die in unserem Artikel erwähnte Zeitzeugin Helena Bohle-Szacki (3. v. rechts).

Treffen von Überlebenden des KZ Helmbrechts in Lodz in den fünfziger Jahren. Das Foto zeigt die in unserem Artikel erwähnte Zeitzeugin Helena Bohle-Szacki (3. v. rechts).
Bildquelle: Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“

Von Tomasz Kurianowicz

Helena Bohle-Szacki faltet ihre Hände, räuspert sich und blickt an die Decke, während sie von ihren Erlebnissen während des Zweiten Weltkriegs erzählt. So, als ob der abschweifende Blick sie zurück in die Vergangenheit führen würde. Helena Bohle-Szacki hat die Schrecken des Nationalsozialismus miterlebt: in der Schule, auf den Straßen und in der Familie. Ihre Halbschwester wurde von der Gestapo erschossen, ihre Mutter von den Nazis verfolgt, sie selbst war als Halbjüdin durch den gelb-schwarzen Stern stigmatisiert. Schließlich inhaftierten die Nazis Helena Bohle-Szacki im Konzentrationslager Ravensbrück. Heute, 64 Jahre nach Ende des Krieges, kommt sie zu Wort und erzählt – gemeinsam mit fast 600 anderen Zwangsarbeitern aus 26 Ländern von ihrem Schicksal.

Auf den Seiten des neu eingerichteten Internet-Archivs „Zwangsarbeit 1939–1945“, einer Kooperation der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Historischen Museum, erhält man Einblick in die Lebens- und Leidensgeschichten. Das Center für Digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität hat das umfangreiche Material digitalisiert, das aus 2200 Video- und Audiodateien, 5500 Fotografien und Dokumenten sowie Transkripten zu allen Interviews besteht, und eine Plattform für die Bereitstellung im Internet entwickelt.

Helena Bohle-Szacki erzählt in einem mehrstündigen Video von den vielen deprimierenden und einigen hoffnungsvollen Momenten während ihrer Inhaftierung im Arbeitslager Helmbrechts/Oberfranken: „Dort lernte ich meine beste Freundin kennen. Ich erzählte ihr von meinem Leben, von Büchern und von Theaterstücken. Wir schmiedeten sogar Zukunftspläne“, erinnert sich die heute 81-Jährige. „Einmal brachte sie mir einen Apfel und ein Plätzchen mit, beides hatte sie in einem Paket bekommen. Das war für mich damals mehr, als wenn mir jemand einen Mercedes geschenkt hätte.“ Diese kleinen und persönlichen, über Geschichtsbücher kaum vermittelbaren Erlebnisse sind es, die die Bedeutung des Internet-Portals ausmachen. „Die Videodokumente geben einen einzigartigen Einblick in die Lebenswirklichkeit der Internierten“, sagt Professorin Ursula Lehmkuhl, die als Erste Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin im Beirat des Zwangsarbeiter-Archivs sitzt. Auch Professorin Gertrud Pickhan, Historikerin am Osteuropa-Institut, die für die wissenschaftliche Begleitung und Umsetzung des Projekts verantwortlich zeichnet, betrachtet das Online-Archiv als großen Gewinn für die historiografische Aufarbeitung der NS-Zeit. Die ersten Reaktionen nach der Veröffentlichung des Archivs bestätigten die Notwendigkeit einer neuen, digitalen Erinnerungskultur. Professor Felix Kolmer, der viele Jahre in Arbeitslagern inhaftiert war, reagierte mit Genugtuung auf die Verwirklichung des Internet-Portals und bedankte sich im Namen der NS-Opfer bei den Initiatoren. „Für mich und die Verbände ist es wichtig, dass die Zwangsarbeiter selbst zu Wort kommen und auch von ihren Nachkriegserfahrungen erzählen“, unterstreicht der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. Der Aspekt der Versöhnung liegt dem Tschechen besonders am Herzen: „Denn die schreckliche Zeit muss ohne Hass geschildert werden.“