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Das Türkei-Dilemma der Europäischen Union

Über die Beitrittsperspektiven und die Meinungen der Bürger in der Europäischen Union

Von Jürgen Gerhards und Silke Hans

Wie steht die Bevölkerung der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu einem EU-Beitritt der Türkei? Der Soziologie-Professor Jürgen Gerhards und die Wissenschaftlerin Silke Hans von der Freien Universität haben zu dieser Frage die Daten einer Umfrage ausgewertet, die die Europäische Kommission in Auftrag gegeben hatte.

Seit 2005 verhandelt die Europäische Union mit der Türkei über die Aufnahme des Landes in die EU. Und wie der jüngste Bericht der Europäischen Kommission verdeutlicht, hat die Türkei erhebliche Fortschritte gemacht, sich den von der EU definierten Standards anzupassen. Die Wachstumsraten liegen über dem EU-Durchschnitt, das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner hat sich kontinuierlich erhöht, die Inflationsrate ist im Vergleich zu früheren Phasen der Entwicklung der Türkei moderat. Zugleich übt die Kommission Kritik an der Menschenrechtslage in der Türkei, an der eingeschränkten Meinungsfreiheit und der fehlenden Gleichberechtigung. Aber auch in diesen Bereichen hat die Türkei, wenn man die Entwicklung seit dem Wahlsieg Recep Tayyip Erdogans 2002 und dessen Amtsantritt als Ministerpräsident ein Jahr später betrachtet, Fortschritte gemacht – auch wenn diese noch nicht den EU-Vorgaben genügen. Schließlich könnte eine veränderte internationale Machtkonstellation die Aufnahme der Türkei in die EU begünstigen: Das Wiedererstarken Russlands als zentraler Akteur auf der weltpolitischen Bühne erhöht den Druck auf die EU, weiteren Ländern eine europäische Perspektive zu eröffnen.

Trotz dieser positiven Entwicklungen haben sich die Aussichten der Türkei auf eine Mitgliedschaft in der EU verschlechtert. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hat angekündigt, über die Mitgliedschaft der Türkei ein Referendum abzuhalten; Österreich hat ähnliche Pläne. Aber auch in den Ländern, in denen nicht das Volk direkt entscheidet, sondern seine gewählten Vertreter, ist der Druck auf die Politik deutlich gestiegen, keine von den Wünschen der Bevölkerung abgekoppelte Europapolitik zu betreiben.

Wie stehen die Bürger der 27 Mitgliedsstaaten insgesamt zu einem EU-Beitritt der Türkei? Das Ergebnis fällt ernüchternd aus: Lediglich ein Drittel aller EU-Bürger möchte, dass die Türkei EU-Mitglied wird. Nur in vier von 27 Mitgliedsländern – Rumänien, Bulgarien, Portugal und Schweden – gibt es eine Mehrheit für einen Beitritt, in den anderen 23 Ländern wird das 50-Prozent-Quorum nicht erreicht, zum Teil sogar deutlich unterschritten. Die Zustimmungsquote in Deutschland liegt bei 17,1 Prozent. Vor allem in den beiden Ländern, die ein Referendum angekündigt haben, fällt die Ablehnung eines Türkei-Beitritts sehr deutlich aus: In Frankreich sprechen sich 24,6 Prozent der Bevölkerung für eine Mitgliedschaft aus, in Österreich sind es nur 5,6 Prozent. Die Chancen, dass eine Mitgliedschaft der Türkei von den Bürgern aller Länder der EU akzeptiert wird, sind also sehr gering.

Dabei ist die Ablehnung des Beitritts der Türkei nicht auf eine generelle Erweiterungsmüdigkeit der EU-Bürger zurückzuführen. In derselben Umfrage wurden die Menschen gefragt, ob sie die Mitgliedschaft der Schweiz, von Norwegen oder Island begrüßen würden. Alle drei Länder erhielten Zustimmungsraten von über 80 Prozent. Auch die Balkanländer können sich einer höheren Zustimmung erfreuen als die Türkei.

Warum also sind viele Menschen gegenüber einer EU-Mitgliedschaft der Türkei so skeptisch eingestellt? Unsere Analyse der Umfragedaten ergab, dass viele Bürger befürchten, eine Mitgliedschaft der Türkei werde Migrationsbewegungen in die wohlhabenden Länder der EU befördern. Sie verbinden dies mit Ängsten vor einer Bedrohung der eigenen Lebensweise und Kultur. Auch die tatsächlichen Erfahrungen der Bevölkerungen in den einzelnen Ländern mit Migrationen spielen eine Rolle. Je höher der Anteil der Ausländer an der Bevölkerung eines Landes, desto negativer ist die Einstellung der Bevölkerung gegenüber einer Mitgliedschaft der Türkei. Neben diesen Ängsten spielen ökonomische Motive eine bedeutsame Rolle. Eine Mitgliedschaft der Türkei würde, auch wenn Übergangsfristen verabredet werden, türkischen Arbeitnehmern die Teilhabe an der Freizügigkeitsregel und damit die Möglichkeit der Abwanderung in die EU- Länder eröffnen. Dort sind es vor allem Personen, die arbeitslos sind oder geringe Einkommen beziehen, die eine erhöhte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt befürchten und deshalb gegen eine Mitgliedschaft der Türkei sind. Zudem ist eine Mitgliedschaft der Türkei in den Augen der Bürger mit Transferzahlungen und Kosten für die reichen EU-Länder verbunden. Dazu sind die Bürger nur begrenzt bereit.

Welche politischen Schlussfolgerungen ergeben sich aus dem Befund, dass die Mehrheit der Europäer keinen EU-Beitritt der Türkei wünscht und sich deswegen in einem Referendum in Frankreich, Österreich oder einem anderen EU-Land wahrscheinlich keine Mehrheit für eine Mitgliedschaft fände? Seit 1963 versucht die Türkei, Mitglied der EU zu werden. Sie unterzieht sich den mühsamen Beitrittsverhandlungen, unternimmt sehr große Anstrengungen, um die Beitrittskriterien zu erfüllen und sich den von der EU vorgegebenen Kriterien anzupassen. Sollte ganz am Ende dieses langen Prozesses eine Ablehnung der Türkei durch die Bevölkerung eines der Mitgliedsländer der EU stehen, käme dies einer Brüskierung der türkischen Bevölkerung gleich. Die Analyse der Umfragedaten legt den Schluss nahe, dass sich die Einstellungen der Bürger nur dann in Richtung einer Zustimmung verändern, wenn die Menschen davon überzeugt werden, dass der Erweiterungsprozess nicht mit finanziellen Kosten für die jetzigen Mitgliedsländer verbunden ist, nicht zu Wanderungsbewegungen in die wohlhabenden Mitgliedsländer führt und damit keine Nachteile für die einheimische Bevölkerung mit sich bringt. Dies sollte die Politik registrieren und darauf mit Lösungsvorschlägen reagieren.