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Hinsehen! Handeln! Helfen!

Ein Präventionsprogramm fördert die Zivilcourage Jugendlicher und hilft, Gewalt an Schulen zu verhindern

Von Ortrun Huber

Clemens hat Angst. Angst vor der Schule. Und besonders vor Jan. Jan, der ihn auf dem Schulhof abpasst und in den Schwitzkasten nimmt. Jan, der ihn in der Klasse nicht aus den Augen lässt. Jan, der rumpöbelt und Clemens tritt. Manchmal sagt einer, Jan solle Clemens in Ruhe lassen. Aber meistens sehen die anderen einfach weg. Nichts ändert sich. Morgen will Clemens nicht in die Schule gehen.

Angst vor Gewalt ist an deutschen Schulen kein Minderheitenproblem. Jeder dritte Schüler zwischen zwölf und 17 Jahren hat nach einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid Angst vor Gewalt an der Schule. Jeder fünfte Schüler gibt an, selbst schon einmal angegriffen worden zu sein. „Bullying“ – also das anhaltende Treten, Verspotten, Ausgrenzen und Demütigen unter Schülern – stellt dabei eine besonders prekäre Form von Gewalt dar. Denn in einer relativ stabilen Gruppe, etwa einer Klasse oder Mannschaft, sind die Rollen klar und dauerhaft verteilt: Das Opfer kann sich nicht wehren, weil es körperlich oder psychisch unterlegen ist. Der Täter wird von einigen Mitgliedern der Gruppe unterstützt. Andere sind vom Geschehen einfach fasziniert oder lachen. Niemand greift ein. „Dabei gibt es immer Beteiligte, die helfen könnten, es aber nicht tun“, sagt Heike Bull, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie der Freien Universität Berlin.

Hier setzt das „Fairplayer.Manual“ an. Das Handbuch, entwickelt unter der Leitung des Entwicklungspsychologen Professor Herbert Scheithauer, soll Schulklassen und Jugendgruppen die Möglichkeit geben, sich mit dem Thema „Gewalt“ und „Zivilcourage“ auseinanderzusetzen. Derzeit wird es – unterstützt durch den Verein fairplayer e. V. und die Schweizer Jacobs Foundation – an Bremer und Berliner Schulen umgesetzt. „Unser Handbuch soll beherztes Handeln sowie die soziale Kompetenz der Jugendlichen fördern und damit Bullying und Schulgewalt eindämmen“, erklärt Herbert Scheithauer. Durch Rollenspiele und Szenarien, die von den Lehrern unterrichtsbegleitend in einer Klasse eingesetzt werden, soll die moralische Sensibilität und Zivilcourage der Schüler gefördert werden. „Die Jugendlichen lernen, sich in andere Rollen hineinzuversetzen, etwa in die des Täters oder in die des Opfers und auch, wie sie in einer Bullying-Situation einschreiten können, ohne die eigene Integrität zu gefährden“, erklärt Heike Bull. Das Präventionsprogramm umfasst 15 bis 17 Doppelstunden, die einmal wöchentlich durchgeführt und so in den Unterricht integriert werden, sodass sie den normalen Schulbetrieb nicht stören. Neben einer Fortbildung werden die Pädagogen über die gesamte Dauer des Programms von pädagogischen oder psychologischen Fachkräften im Unterricht begleitet, den sogenannten Fairplayer Teamern. Auch die Eltern werden auf zwei Elternabenden miteinbezogen. Sie finden vor Beginn und nach der letzten Fairplayer-Sitzung statt.

Die Psychologin Heike Bull hat das Fairplayer-Handbuch zusammen mit Herbert Scheithauer konzipiert und seine Wirksamkeit an einer Bremer Schule ausgewertet. „Unsere Studie mit 89 Schülern der achten und neunten Klasse einer Gesamtschule hat gezeigt, dass relationale Aggressionsformen – also etwa das Ausgrenzen oder Verbreiten von Gerüchten – nach dem Einsatz des Fairplayer-Manual auf wesentlichem Niveau zurückgingen“, erklärt Heike Bull. In der Vergleichsgruppe (35 Schüler der gleichen Klassenstufe), die kein Fairplayer-Training erhalten hatte, nahm diese Form der Aggression hingegen zu. „Wir konnten auch zeigen, dass die Häufigkeit von Bullying-Attacken durch das Fairplayer-Programm wesentlich sank, während diese in den untersuchten Vergleichsgruppen eher zunahmen. Diese Effekte ließen sich auch noch ein Jahr später nachweisen“, so Heike Bull.

Der Erfolg des Fairplayer-Manual hat die Wissenschaftler bewogen, unter dem Titel „Fairplayer.Sport“ ein weiteres Präventionsprogramm zu entwickeln. Die Idee: Auch beim Sport sollen Jugendliche soziale Fertigkeiten erwerben und Gewalt damit vorgebeugt werden. „Auf dem Sportplatz geraten Kampfeswille und der Geist des Fairplay häufiger in Konflikt“, sagt Markus Hess, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie der Freien Universität Berlin. „Deshalb bietet der Sport eine ideale Gelegenheit, soziale Fertigkeiten zu erlernen und einzuüben.“ Zusammen mit der Sportwissenschaftlerin Christiane Pawlizki entwickelt der Psychologe derzeit in sieben Berliner Sportvereinen ein bewegungsorientiertes Trainingsprogramm. „Wir arbeiten mit Jungen- und Mädchen-Fußballmannschaften der C- und D-Jugend“, sagt Markus Hess. Zwar gebe es bereits etliche Fairplay-Initiativen im Sport, doch fehle es bislang an Wissen, welche Schritte mit psychologischer und sportwissenschaftlicher Fundierung soziale und moralische Fähigkeiten fördern können. Hier wollen die Wissenschaftler mit ihrem Projekt, das ebenfalls von der Jacobs Foundation und dem Landessportbund Berlin unterstützt wird, eine Lücke schließen. Im kommenden Jahr wird ein evaluiertes Programm vorliegen, das Trainern in Form eines Handbuchs für die Arbeit mit Jugendmannschaften zur Verfügung gestellt werden kann.

Clemens und Jan sind noch immer keine Freunde. Aber sie kommen nun besser miteinander aus. DieKlasse hat mithilfe des Fairplayer-Handbuchs über Konflikte geredet, über Opfer und Täter, und warum es manchmal so schwer ist, das Richtige zu tun. Clemens weiß nun, dass er nicht allein ist. Bei Problemen helfen ihm andere weiter. Und Jan begreift, dass die Klasse es nicht mehr tolerieren wird, wenn er Schwächere quält. Genau hinsehen, schnell handeln und konkret helfen – das ist nicht immer selbstverständlich. Aber Zivilcourage ist erlernbar.