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Zwei Geburtstage

Von Dieter Lenzen

Am 4. Dezember feiert die Freie Universität Berlin ihr 60. Jubiläum. 2010, in zwei Jahren, wird sie 200 Jahre alt. Wie kann das sein? Es hat etwas mit dem 4. Dezember zu tun. Am 4. Dezember 1810 wurde nämlich die Berliner Universität gegründet, eine Universität mit damals hochinnovativem Anspruch, wie man heute sagen würde. Ihre Gründung beruhte auf einer Grundannahme der Bildungsphilosophie Wilhelm von Humboldts, der zufolge Wissenschaft in besonderer Weise geeignet sei, junge Menschen zu Menschen zu erziehen – im Sinne von Menschen, die der Humanität verpflichtet sind. In dieser Konzeption spielten die alten Sprachen eine besondere Rolle. Humboldt ging nämlich davon aus, dass eine Befähigung zur Humanität diesen Sprachen, besonders dem Griechischen, immer schon innewohnte. Der Erwerb dieser Sprache spielte deshalb für das Humanistische Gymnasium und das Universitätsstudium eine große Rolle. Die heute fremd wirkende Durchsetzung der Wissenschaftssprache mit griechischen oder lateinischen Begriffen hatte hier ihren Ursprung.

Zwei Elemente seien des Weiteren Voraussetzung für diese Bildungsleistung der Wissenschaft, dass nämlich die Erkenntnissuche in Einsamkeit und Freiheit stattfinde. Also: kein kollektivistisches Auswendiglernen vorweg zensierter Dogmen, sondern weitestgehende Zurückhaltung des Staates, nicht nur bei der Erkenntnissuche, sondern auch der Organisation der Wissenschaft in einer Universität. Das Ideal wurde oft kopiert im Ausland, aber oft auch verändert im Inland. So wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts klar, dass zweckfreie Wissenschaft den Bedürfnissen der heranwachsenden Industrie nicht genügen würde. So entstanden neue Schulen und Hochschulen mit technischem Schwerpunkt. Hundert Jahre später fand die Erfüllung dieses neuen Bedarfs ihren Ausdruck in der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem, dem heutigen Campus der Freien Universität Berlin, wiederum am 4. Dezember. Der technikverliebte Kaiser stampfte buchstäblich zahlreiche Institute seiner neuen Gesellschaft für Grundlagenforschung aus dem Boden und ergänzte sie um ausgelagerte Institute aus der damaligen Berliner Universität, besonders aus den Naturwissenschaften. Der Fokus der zukunftsgerichteten neuen Disziplinen war also damals bereits in Dahlem.

Nach dem Zusammenbruch 1945 lag nun ein Teil der Berliner Universität im sowjetischen Ostsektor, ein Teil im amerikanischen Westsektor. Die politischen Verhältnisse an der bald in „Humboldt-Universität“ umgetauften Universität Unter den Linden, der früheren Friedrich-Wilhelms-Universität, führten zu unhaltbaren Zuständen und zu einer völligen Ignoranz gegenüber dem Gründungsideal der Berliner Universität. Statt Einsamkeit und Freiheit herrschten Kollektivismus, Zwang und Indoktrination. Die Konsequenz ist bekannt: 1948 gründeten Professoren und Studenten mit US-amerikanischer Hilfe auf dem westlichen Campusteil der Berliner Universität und der Max-Planck-Gesellschaft, der früheren Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die Freie Universität Berlin – wiederum und keineswegs zufällig an einem 4. Dezember!

Wie kaum eine andere Universität wurde die Freie Universität Berlin Ausdruck und zugleich Katalysator der epochalen Veränderungen Deutschlands. Seit ihrer Gründung 1948 durchlebte die Freie Universität in Schritten von zwei Dezennien die gravierenden Umbrüche von 1968, 1989 und 2007: Studentenrevolte – Mauerfall – Exzellenzwettbewerb. In der Freien Universität Berlin hat das Universitätsideal Wilhelm von Humboldts seinen unnachahmlichen Ausdruck in einem unbändigen Freiheits- und Existenzwillen gefunden, der den Ereignissen Deutschlands in den zurückliegenden 60 Jahren einen jeweils unterschiedlichen, aber doch definitiven Akzent verliehen hat: Freiheit verteidigen – Freiheit als Emanzipation von Standesdünkel und schuldhafter Verstrickung – Freiheit am Ende eines unfreien Erziehungsstaates – Freiheit durch Leistungswille und Exzellenz.

Das ist der Grund dessentwegen die Freie Universität Berlin immer zwei Geburtstage hat, einen, der auf 1810 und einen solchen, der auf 1948 verweist. Deswegen war es eine weise Entscheidung des Regierenden Bürgermeisters, das Jahr 2010 zu einem Gesamt-Berliner-Wissenschaftsjahr zu erklären unter Einschluss aller wissenschaftlichen Einrichtungen. Das ist auch gut so.

Der Autor ist Präsident der Freien Universität Berlin.