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Die Kräfte des Alltags verstehen

Jenseits von Formeln: Guter naturwissenschaftlicher Unterricht sollte mehr als Wissen vermitteln

Von Catarina Pietschmann

Isotop? Phenolphthalein? Entropie? Im Chemieunterricht riecht es mitunter nicht nur fremdartig. Auch das Vokabular klingt wie von einem anderen Stern. Manche Schüler zieht solche Exotik an – andere schreckt sie jedoch ab. Und diejenigen, die wegen mangelnder Deutschkenntnisse den „Übersetzungen“ ihres Fachlehrers erst recht nicht folgen können, schalten ab.

Sprachprobleme führen zu schlechten Noten, und die verringern die Chancen auf Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Schüler mit Migrationshintergrund haben, wie aktuelle Studien belegen, weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die PISA-Studien zeigten zudem einen engen Zusammenhang zwischen sprachlicher Kompetenz und dem sozialen Umfeld der Schüler mit ihren Schulleistungen.

Sprachschulung ist heute, nach Ansicht von Claus Bolte – er lehrt Chemiedidaktik an der Freien Universität – nicht nur die Aufgabe der Fächer Deutsch und Deutsch als Zweitsprache. Auch Chemieunterricht sollte dies leisten. „Das liegt zwar nicht zwingend im pädagogisch-fachdidaktischen Horizont der gegenwärtigen Lehrergeneration, aber bei Klassen, in denen 80 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund haben, kann ich als Lehrer nicht einfach sagen: Wir haben die falschen Schüler!“ Die meisten verstünden sich eher als Vertreter ihres Fachs als als Pädagoge. Kein Wunder: Die universitäre Ausbildung von Chemie- und Physiklehrern war – und ist – sehr akademisch und hauptsächlich am Gymnasium orientiert. Die Hauptschule wird didaktisch stiefmütterlich behandelt. Am Institut für Chemie und Biochemie der Freien Universität Berlin entwickelt Claus Bolte mit seinen Mitarbeiterinnen unter anderem Konzepte für sprachaktivierenden Unterricht.

In Berlin wird seit 2004 das Fach Naturwissenschaften in der 5. und 6. Klasse integriert unterrichtet – was bedeutet, dass es keine Trennung in Biologie, Chemie und Physik gibt. Doch auch über diese Alterstufe hinaus hält Bolte dies für sinnvoll. Zumal in der modernen Wissenschaft, in die die Schüler Einblick gewinnen sollen, die Grenzen zwischen den Disziplinen mehr und mehr verschwimmen. „Ich glaube, dass es ihnen leichter fällt – auch sprachlich –, wenn sie gleich die unterschiedlichen Perspektiven eines Begriffes wie Energie lernen“, sagt Bolte. Sonst würden die Schüler den Begriff in der 5. Klasse in Biologie bei „Ernährung“ behandeln, in der 7. Klasse in Physik beim Thema „Strom“ und später in der Chemie. Die unterschiedlichen begrifflichen Facetten müssten dann erst zusammengebracht werden. Bestenfalls hätten die Schüler inzwischen vergessen, was sie über den Begriff bereits gelernt haben. Andernfalls käme es eher zu Verwirrung als zu nachhaltigem Wissenszuwachs.

Sprachaktivierung lässt sich mit integriertem naturwissenschaftlichen Unterricht gut vereinen. In einer Pilotstudie getestet wird das von Claus Bolte gemeinsam mit Reinhard Pastille, Privatdozent für Chemiedidaktik an der Freien Universität Berlin, entwickelte Konzept in 7. und 8. Klassen an der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Berlin-Kreuzberg. Masterstudierende erarbeiten während ihrer chemiedidaktischen Ausbildung Unterrichtseinheiten – etwa zum Thema „Kräfte“. Wo treten Kräfte im Alltag auf? Wie wirken sie? Was passiert da genau? Ein vordergründig physikalisches Thema, das jedoch sehr variantenreich ist: vom Faustschlag über den Klebefilm bis zur Oberflächenspannung von Wassertropfen. Die Vielfalt der Thematik erkennen und dann eine Ordnung herstellen, lautet das Prinzip des zweijährigen Programms. „Wir orientieren uns dabei zunächst an der Alltagswelt der Schüler, auch an ihrer Sprache. Die Fachbegriffe kommen erst danach“, betont Bolte. Experimente zum Thema lassen staunen und schaffen Sprachanlässe. Kleine Fachtexte werden gelesen, neue Begriffe notiert und bei der Beschreibung des Gesehenen gleich ausprobiert.

Bernhard Pastille, bis vor kurzem selbst Studiendirektor an dieser Schule, zieht nach anderthalb Jahren eine erste ausgesprochen positive Bilanz: „Das beste Drittel der Klasse wird durch diesen Unterricht deutlich besser. Auch das mittlere Drittel, das sonst nur wohlwollendes Desinteresse zeigt, profitiert davon.“ Das schwächste Drittel werde jedoch schwer erreicht. Für diese Schüler werden sich die Didaktiker weitere Angebote einfallen lassen müssen.

Bei den Fachlehrern trifft der integrierte Unterricht nicht immer auf Begeisterung. Bedeutet er doch, dass manche gelegentlich wieder zum Fachbuch greifen müssen. Doch dafür werden sie mit Lernerfolgen, erkenntnisreicheren Schülern und mehr Spaß am Unterricht belohnt.