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Archaische Landschaften

Alles dreht sich um alte Pollen. Bei Erdbohrungen können Forscher leicht im falschen Jahrtausend landen. Erfolgversprechende Gebiete sind Seen, Sümpfe und Moore.

Alles dreht sich um alte Pollen. Bei Erdbohrungen können Forscher leicht im falschen Jahrtausend landen. Erfolgversprechende Gebiete sind Seen, Sümpfe und Moore.
Bildquelle: privat

Mithilfe von Pollen rekonstruiert Christiane Singer die Vegetation vergangener Jahrtausende

Von Catarina Pietschmann

Das Büro wirkt ziemlich kahl. Nur ihr „engster Mitarbeiter“ Johnny ist bereits komplett eingerichtet: ein kleines Sofa mit Lammfell und Plüschkatze. Darauf nimmt er Platz, wenn sein Hundesitter ihn wieder bei Christiane Singer abgeliefert hat. Die 38-jährige Frankfurterin ist seit Mai Juniorprofessorin für Geoarchäologie an der Freien Universität. Sie ist eine von acht Neuberufenen im Rahmen des Exzellenzclusters „Topoi“, in dem derzeit 174 Wissenschaftler „Entstehung und Wandel von Raum und Wissen antiker Zivilisationen“ erforschen – vom Vorderen Orient über den Mittelmeerraum bis zum Schwarzen Meer. Beteiligt an dem facettenreichen Projekt sind neben der Freien Universität Berlin die Humboldt-Universität, das Deutsche Archäologische Institut, die Staatlichen Museen zu Berlin sowie die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Das Besondere daran: Archäologen, Historiker, Philosophen, Philologen und Geographen arbeiten Hand in Hand.

Christiane Singer befasst sich mit der Rekonstruktion von archaischen Landschaften. Eben erst ist sie zurückgekommen aus Kasachstan und Südrussland, wo sie je einen Doktoranden betreut. Gemeinsam haben sie im Umfeld von Kurganen, also Grabhügeln, nach Pollenprofilen gebohrt. Die Stipendiaten arbeiten jeweils mit einem Archäologen zusammen. „Er erstellt anhand seiner Grabungen Siedlungsmuster, und die Geographen ,liefern‘ die Landschaft dazu“, erklärt Singer.

Tatsächlich klingt das einfacher, als es ist. Denn die Pollen finden sich selten direkt an der Grabungsstelle, schon gar nicht in Steppengebieten. „Sie überdauern zwar Jahrtausende – aber nur, wenn sie unter Sauerstoffausschluss abgelagert wurden.“ Erfolgversprechende Bohrplätze sind Feuchtgebiete wie Seen, Sümpfe und Moore. Sie müssen nicht einmal unmittelbar in der Nähe des Grabhügels liegen, denn Pollen werden durch den Wind wie eine feine Wolke über ein Gebiet von Hunderten von Quadratkilometern gleichmäßig verteilt.

Von Hand bohren sich die Forscher an verschiedenen Orten mühsam in die Tiefe. Hinein in das „Jahrtausend-Tagebuch“ einer längst vergangenen Natur. Mit dem Bohrprofil kommt praktisch das gesamte Vegetations- und Klimaarchiv einer Region an die Erdoberfläche. Wie tief unten die gesuchte Schicht liegt, auf die 2000 oder 1000 Jahre vor Christus Blütenstaub von Bäumen, Gräsern und Blumen fiel, wissen sie vorher nie genau. „Es kann neun Meter tief sein. Manchmal ist man aber schon nach einem Meter im frühen Holozän – und aus Versehen 6.000 Jahre zu weit zurück. Erst die Radiokarbon-Datierung gibt Sicherheit.

Die eigentliche Pollenanalyse findet im Labor statt. Für Christiane Singer keine ungewohnte Arbeit. Nach dem Studium in ihrer Heimatstadt arbeitete sie schon während ihrer Masterarbeit an der Victoria University of Wellington in Neuseeland mit den nur 10 bis 60 Mikrometer großen Körnchen. Für ihre Dissertation untersuchte sie hessische Pollen – unter anderem aus der römischen Kaiserzeit. Und im syrischen Jaszira rekonstruierte sie Landschaften des dritten vorchristlichen Jahrtausends.

Aus dem Bohrprofil werden im Abstand von wenigen Zentimetern Proben genommen – jeweils weniger als ein Fingerhut voll – und chemisch aufbereitet. Die Zeit ließ von den Pollen hauptsächlich deren äußerst widerstandfähige Wand übrig. Sauerstoff und Bakterien wäre sie zwar hilflos ausgeliefert, aber das nun folgende aggressive Wechselbad übersteht sie stoisch: Mit Salzsäure wird zunächst jeglicher Kalk aus der Probe gelöst, dann werden organische Substanzen durch ein Säuregemisch abgetrennt. Sand und andere Mineralien zersetzt schließlich Flusssäure. Übrig bleiben nur die Pollen, die – in Silikon luftdicht eingebettet – auf Objektträger gestrichen und unter dem Lichtmikroskop ausgezählt werden. Eine Sisyphusarbeit, denn in jedem Präparat finden sich Tausende – und zwar von mehreren Hundert Arten. Anhand ihrer Form, Größe und Oberflächenstruktur werden sie identifiziert. Bis die Landschaft endlich aus dem Nebel der Vergangenheit auftaucht, sind Hunderte von Zählzetteln vollgeschrieben. Das Ergebnis: ein Pollenprofil, das die Artenverteilung einer Region im Wandel der Jahrhunderte zeigt. Außerdem: weitergehende Informationen, die bei rein archäologischen Grabungen kaum ans Tageslicht gekommen wären. „Gab es Obstgärten, Getreideanbau? Oder Viehzucht, denn Weidetiere lassen bestimmte Arten zurück.“ Und da Pflanzen sehr unmittelbar auf Klimaänderungen reagieren, können am jeweiligen Blütenstaubmix sogar Klimatrends abgelesen werden.

Für Christiane Singer erfüllt sich mit dem Topoi-Projekt ein Kindheitstraum, denn Geschichte und Archäologie fand sie schon immer spannend. Auch Johnny findet’s gut. Manchmal darf er mit auf Exkursion.