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Brückenbauerin zwischen Tradition und Moderne

Simone de Beauvoir – eine Intellektuelle für das 21. Jahrhundert. Mit ihren Romanen hat sie ihr Leben „insWerk“ gesetzt

Von Ulla Bock

Die französische Philosophin, Schriftstellerin und Feministin Simone de Beauvoir gilt als Inbegriff der Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Als Philosophin entwickelte Beauvoir ein Konzept für eine feministische Ethik der Gerechtigkeit, die zur Stellungnahme und zum konkreten Engagement verpflichten sollte. Als Schriftstellerin sah sie im Erkennen und Schreiben das Projekt ihres Lebens – beides untrennbar miteinander verbunden. So waren es vor allem ihre Romane, mit denen sie ihr Leben im wahrsten Sinne des Wortes „ins Werk“ gesetzt hat. Und viele Frauen fanden ihren Zugang zu Beauvoir zunächst über ihr literarisches Werk.

Als Feministin zog sie gegen die Mythen des „Ewigweiblichen“ zu Felde. Als deren Kern sah Beauvoir die Mystifizierung der Mutterschaft und die auf ihr basierende Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern. Simone de Beauvoir provozierte und rief gegensätzliche Reaktionen hervor. Doch gerade diese Widersprüchlichkeit ist unabdingbar für das Leben und Werk Simone de Beauvoirs, die für sich stets das „Recht auf Ambiguität“ einforderte und sich gegen eine Reduktion auf ein einziges Bild verwahrte.

In Deutschland war es vor allen anderen Alice Schwarzer, die Simone de Beauvoir bekannt gemacht hat, indem sie die Interviews, die sie zwischen 1971 und 1982 mit Beauvoir (und Jean-Paul Sartre) führte, ins Deutsche übersetzte und publizierte. Diese Gespräche belegen, dass sich Beauvoir zwar erst spät, dann jedoch unmissverständlich zum Feminismus bekannte und so zur Wegbereiterin der neuen Frauenbewegung wurde.

Mit ihrem Essay Le Deuxième Sexe (1949, dt.: Das andere Geschlecht) legte Simone de Beauvoir den Grundstein für einen modernen Feminismus. Mit dieser Studie versuchte sie, die „Situation“ der Frau zu beschreiben, die als das andere Geschlecht in der Gesellschaft eine unterlegene Position zugewiesen bekomme. Beauvoir hatte mit ihrer Studie Tabus gebrochen, und so blieb der Skandal nicht aus: Ihr Aufruf an die Frauen, sich von den Fesseln der Hausarbeit zu befreien und sich wirtschaftlich vom Mann unabhängig zu machen, wurde von vielen Frauen begeistert aufgenommen. Dies, vor allem jedoch Beauvoirs Thematisierung von Sexualität, wurde von vielen auch als gänzlich ungehörig angesehen und – überwiegend von Männern – skandalisiert: Das Buch sei ein „Brechmittel“, meinte etwa der Schriftstellerkollege François Mauriac. In Deutschland wurde „Das andere Geschlecht“ zunächst vor allem im universitären Umfeld der Sozialwissenschaften wahrgenommen und hier vor allem als eine Sozialisationstheorie gelesen. Beauvoirs phänomenologische Denkweise, die besonders in ihren philosophischen Essays zum Ausdruck kommt, wurde dagegen kaum zur Kenntnis genommen.

Es ging Beauvoir nicht darum, das Frausein zu erklären, sondern das Leben von Frauen zu beschreiben und deutlich zu machen, wie Weiblichkeit (und Männlichkeit) begriffen und mit welchen Mythen das Weibliche als etwas scheinbar Essenzielles verewigt wurde. Bis heute ist die Rezeption von Beauvoirs Werk widersprüchlich geblieben. Das liegt zum Teil gewiss an der Ambivalenz ihrer Aussagen. So zeigt sie zum einen die Struktur einer patriarchalen Gesellschaft auf, die Frauen marginalisiere und diskriminiere, zum anderen entlarvt sie die Beteiligung von Frauen an ihrer inferioren Lage. Diese Doppeldeutigkeit bündelt sich in Simone de Beauvoirs berühmten Satz „On ne naît pas femme, on le devient“. Beauvoirs Aussage „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ wurde von Alice Schwarzer mit „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht“ übersetzt. Diese Lesart überwog bei der Rezeption von Beauvoirs Studie in den 1970er und 1980er Jahren. Sie legt nahe, dass Frauen eher eine passive Rolle einnehmen, dass sie zu Frauen gemacht und so in eine inferiore Situation gezwungen werden.

Und in der Tat lässt das Ende von „Das andere Geschlecht“ eine solche Interpretation zu: „Später ist dann nicht mehr zu verhindern, dass die Frau das ist, wozu man sie gemacht hat.“ Aber Beauvoir kritisiert zugleich mit Schärfe das „Mitmachen“ der Frauen, wenn sie sich in der Rolle des zweiten Geschlechts einzurichten wissen, sich gar darin gefallen. Die Kritik an der Komplizenschaft – wie Pierre Bourdieu fünfzig Jahre später in seiner Studie über die „männliche Herrschaft“ das Mitmachen nennt – ohne die Herrschaft nicht möglich sei, besagt, dass zur Emanzipation und Freiheit mehr gehört als nur die Erkenntnis von Unfreiheit: nämlich auch der Mut und der Wille zur Freiheit sowie die Bereitschaft zur Einsamkeit. Im Jahre 1999 fand in Paris zum fünfzigsten Jahrestag des Erscheinens von Le Deuxième Sexe eine internationale Konferenz statt.

Diese Tagung mit Teilnehmern aus insgesamt 26 Ländern zeigte, dass Simone de Beauvoirs bekanntestes Werk weit über Europa hinaus gelesen wurde und wird. Außerdem wurde deutlich, dass nicht mehr so sehr das Paar Beauvoir/Sartre und das Verhältnis zwischen ihren und seinen philosophischen Ideen im Mittelpunkt der Debatten stehen. Neu war, dass Beauvoir zunehmend als eigenständige Denkerin wahrgenommen und als Vordenkerin postmoderner Theorien gelesen wird: Die Stichworte heißen Marginalisierung, Kritik an Mythen, Delegitimation der „großen Erzählung“, Ablehnung des dualistischen Denkens, Kritik an abstrakten Menschenrechten, feministisches Konzept einer Ethik der Gerechtigkeit, wechselseitige Anerkennung der Geschlechter jenseits der dichotomen Geschlechterordnung. Beauvoir war somit auch Wegbereiterin des Theorems von der sozialen Konstruktion von Geschlecht – eine Theorie, die die Geschlechterdebatten heute nicht nur in intellektuellen Kreisen bestimmt. Beauvoirs Werk umfasst philosophische Studien, autobiografisch orientierte Romane, Essays, Memoiren, Reiseberichte, Tagebücher und Briefe.

Die Debatte über das Gesamtwerk ist noch längst nicht zu Ende geführt. Anders gesagt: Wir stehen (noch) am Anfang einer Beauvoir-Forschung, die die akademisch- philosophischen und feministischen Diskurse bereichern wird. In diesem Sinne ist Simone de Beauvoir ganz gewiss eine Intellektuelle auch für das 21. Jahrhundert. Im Sommer 2006 wurde in Paris zum ersten Mal eine Fußgängerbrücke über die Seine auf den Namen einer Frau getauft: Passerelle Simone de Beauvoir. Und auch im übertragenen Sinne war sie Brückenbauerin: Schon vor einem halben Jahrhundert hat Simone de Beauvoir mit ihrem Denken und Leben eine Verbindung zwischen der traditionellen Frauenrolle und demmodernen Frauenleben geschaffen. Viele Frauen sind ihr auf diesem Weg gefolgt.

Ulla Bock ist promovierte Soziologin und Geschäftsführerin der Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung an der Freien Universität Berlin.