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Russland steht vor großen Herausforderungen

Ein Plädoyer für mehr Kooperation zwischen der Europäischen Union und der russischen Führung

Von Klaus Segbers

Die Parlamentswahlen, die am2. Dezember in Russland anstehen, sind wohl schon jetzt entschieden. Die Mehrheitsfraktion ER (Edinaia Rossiia / Einiges Russland) wird mit einem großen Vorsprung gewinnen, vielleicht sogar mit zwei Dritteln der Stimmen.

Die Präsidentschaftswahlen im kommenden März lassen sich ein Stück weniger genau prognostizieren. Klar ist, dass jeder Kandidat oder jede Kandidatin, die von Vladimir Vladimirovich Putin unterstützt wird, siegreich sein dürfte. Unklar ist einstweilen, wer diese Person sein wird, und was genau der derzeitige Präsident für Pläne hinsichtlich seiner eigenen künftigen Rolle hat.

Das mit Putin gut symbolisierte, aber keineswegs auf ihn reduzierbare derzeitige politische Regime in Russland wird so oder so eine Zeit lang fortgesetzt werden. Das entspricht dem Willen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung und auch der meisten Nachbarn Russlands. Der Name Putin steht für einen Zugewinn an Stabilität – gemessen an der Ära Jelzin – und für partielle internationale Kooperation in wichtigen Feldern, etwa im Kampf gegen den Terrorismus, dem Beitritt zur Welthandelsorganisation oder bei der Einhegung des Iran.

Dem stehen andere Fragen und Problemfelder gegenüber, deren Bedeutung je nach Standpunkt unterschiedlich gewichtet wird: Die Russische Föderation ist keine Musterdemokratie. Dies galt schon unter Jelzin, obwohl die Räume für Debatten und in den Medien damals breiter waren. Sie wäre es auch ohne Putin nicht, da die Voraussetzungen (Zivilgesellschaft, Parteien, Assoziationen) nicht in dem Maße gegeben sind, wie das etwa in Westeuropa der Fall ist, mit einem viel längeren Vorlauf.

Russland tritt seit einiger Zeit auch nach außen selbstbewusster, teilweise (vor-)laut auf. Der Widerstand gegen die Pläne derUSAfür ein Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien ist nicht illegitim. Die Stornierung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) und die mögliche Aufkündigung des INF-Vertrages über nukleare Mittelstreckenraketen in Europa sind auftrumpfende Gesten, die in Europa und in Russland kaum jemanden froh machen.

Dahinter steht nicht nur das Kalkül, dass eine markige Rhetorik bei den Wahlen Ertrag verspricht. Die neuen Mittelschichten in Russland konsumieren gern und viel, aber sie wollen auch gern außerhalb der eigenen Grenzen geachtet werden – und hatten das lange vermisst. Die Eliten der russischen Gesellschaft haben seit einiger Zeit ein nachhaltiges, mitunter traumatisches Misstrauen gegenüber vermeintlichen westlichen Versuchen entwickelt, auch in der Russischen Föderation eine „farbige“ Revolution zu inszenieren. Erfahrungen und Deutungen aus Serbien, der Ukraine, Georgien, Kirgistan haben ihre Spuren hinterlassen.

Eine Reihe von westlichen sicherheitspolitischen Schritten, die aus russischer Sicht unziemlich waren und zu Sicherheitseinbußen der Russischen Föderation führten, kamen hinzu: Die zweimalige Ausdehnung der NATO nach Osten seit 1990, die Präsenz amerikanischer und anderer westlicher Streitkräfte nach dem 11. September 2001 in Mittelasien, unfreundliche Beziehungen mit den Regierungen Georgiens, Polens und der baltischen Länder.

Zwei Faktoren machen es nun möglich, dass die derzeitige russische Führung ihr Missfallen nicht mehr nur zurückhaltend und nicht immer diplomatisch kundtut: Zum einen sind die Kräfte der USA in einem aus dem Ruder gelaufenen Irak-Krieg gebunden, und das hat Auswirkungen auch auf andere Weltgeschäfte. Zum anderen spülen die hohen Weltmarktpreise für Energieträger erhebliche Mittel in die Staatskassen, die für innere Entwicklungsprogramme und als Stabilisierungsreserven vorgesehen sind, teilweise aber auch in neue Rüstungsprogramme investiert werden sollen.

Es spricht nichts dagegen, dass westliche Journalisten und Beobachter ihr Lieblingsthema „Demokratiedefizit“ weiter verfolgen. Hier liegt manches im Argen. Jedoch ist das nur eine Teilfrage – wenn auch eine wichtige. Andere Themen sind mindestens ebenso gewichtig: Der Zusammenhalt der Russischen Föderation muss gesichert werden. Es wäre ein Verhängnis, wenn der größere innere Zusammenhalt, der auf das Chaos der 1990er Jahre folgte, gefährdet würde. Angesichts zahlreicher gesellschaftlicher Spreizungen ist das nicht ganz abwegig. Russland ist kulturell, ethnisch und auch religiös – bei einer wachsenden muslimischen Minderheit – heterogen. Dasselbe trifft auch zu auf die Verteilung des Wohlstands, die gesundheitliche Bilanz und den Zugang zu Informationen.

Weitere Themen kommen hinzu. Die wirtschaftliche Entwicklung muss gesichert werden. Die sozialen Folgen des Beitritts zur Welthandelsorganisation könnten gravierend sein, etwa durch den erzwungenen Abbau von Energiesubventionen. Der Inflationsdruck nimmt zu. Das Kreditsystem ist noch nicht gefestigt.

Die Tatsache, dass die Infrastruktur vielfach unzureichend entwickelt ist, birgt große Risiken. Es besteht ein erheblicher Bedarf an Investitionen, vor allem im Verkehrswesen und bei den Pipelines. Die demographische Entwicklung ist unverändert schlecht, die Bevölkerung schrumpft. Ein Zustrom von Migranten ist nicht durchweg erwünscht. In Teilen des Landes ist eine Islamisierung zu verzeichnen.

Die Institutionalisierung des politischen Raumes lässt zu wünschen übrig. Das ist nicht nur dem Bremsen der Präsidialverwaltung geschuldet. Ein überkommener Patrimonialismus und ein neu entstehender Liberalismus stehen sich unvermittelt gegenüber. Die „liberalen“ Gegeneliten sind zerstritten und kaum präsentabel. Schließlich ist auch das internationale Umfeld schwierig. Das betrifft unter anderem die ungelöste Kosovo-Problematik, die Nuklearisierung des Iran (und dann wohl weiterer Staaten) sowie jederzeit denkbare Terror-Aktivitäten.

Der Zustand der russischen Infrastruktur birgt Risiken, Investionen sind nötig

Es ist zu wünschen, dass sowohl die russische Führung wie auch die EU im kommenden Jahr einen neuen Anlauf zur Intensivierung der Kooperation unternehmen. Russland ist heute vielfältig verflochten – über Kapitalströme, Weltmarktpreise (Energieträger und Metalle), Ströme von Content (Informationen und Unterhaltung) und über Migrationsbewegungen aller Art. Das heißt auch, dass längst nicht mehr nur die russische Innenpolitik maßgeblich ist für das, was in Russland geschieht. Damit werden Lernprozesse in Russland verbunden sein – so ist zu hoffen.

Die EU steht erneut vor der Herausforderung, nach außen abgestimmt und verbindlicher aufzutreten und ihr objektiv gegebenes Gewicht zur Geltung zu bringen. Das gilt gegenüber Russland, den USA und auch China. Und ebenso für die Kapitalmärkte. Nur symbolische oder gar zwischen Ministerien geteilte Politik in Berlin ist dabei nicht hilfreich. Aufregung über russische Schroffheiten ebenso wenig – das sollte man ignorieren und nicht in Hektik verfallen. Konstruktive Substanz ist gefordert. Von beiden Seiten.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut und am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin.