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Liebeskrankheit des Mittelalters

Naturphilosophen empfahlen Aderlass und heiße Bäder gegen das unerwiederte Verlangen

Von Monika Zeiner

„Und noch immer hat man die Wahrheit nicht gefunden!“ Dieser knappe Satz des Dichters Chiaro Davanzati über die Liebe scheint auch gegenwärtig dieselbe Gültigkeit zu besitzen wie im 13. Jahrhundert, als ihn der Toskaner in einem seiner Sonette als ratlos staunendes Schlussfazit formulierte. Die Liebe bleibt ein Rätsel, auch im Zeitalter der Neurobiologie und der Infragestellung der menschlichen Willensfreiheit durch die Hirnforschung. Zwar hat man in der wissenschaftlichen Beschreibung der neurochemischen Vorgänge gewisse Fortschritte erzielt. Doch sind wir weit davon entfernt, das Geheimnis der Liebe zu entschlüsseln.

Nicht zuletzt deshalb blieb in der Neuzeit die Auslotung der Liebe und all ihrer Facetten bevorzugt der Literatur überlassen, die in ihrer metaphorischen Rede dem Schwankenden, Rätselhaften eher zu entsprechen scheint. Nicht so in Antike und Mittelalter. Zwar wurde auch in jenen Zeiten viel und beredt über die Liebe gedichtet. Darüber hinaus aber betrachtete man sie als Gegenstand der Naturwissenschaft, ja sie war seit der Spätantike bis ins 17. Jahrhundert – recht prosaisch – gar als Krankheit in jedem medizinischen Kompendium vermerkt.

"Die Liebe konserviert einen einzigen Augenblick, den Augenblick ihres Entstehens."

Aus naturphilosophischer Sicht wurde die Liebeskrankheit oder „amor hereos“ einhellig als eine der Melancholie verwandte psychosomatische Störung qualifiziert, die durch eine Reihe von Gegenmaßnahmen gemildert werden konnte: Spaziergänge, heiße Bäder, Aderlass, der mäßige Genuss von Wein, liebliche Musik und nicht zuletzt der Beischlaf mit wechselnden Partnern wurden als Therapien angeraten, um Schlimmeres zu verhindern, in schwerwiegenden Fällen gar das Ableben des Leidenden. Die Liebe nämlich war meist ein unerwidertes Verlangen und wenn nicht unerwidert, so doch zumindest unmöglich, was im Organismus des Patienten eine folgenschwere Kette psychosomatischer Reaktionen auslöste.

In der Antike stand am Anfang das Sehen. Nach aristotelisch-galenischer Auffassung nimmt der Liebende die äußere Form des Objekts mithilfe des Sehsinns auf und übermittelt das Bild, das sogenannte „phantasma“ an den Wirkungskreis der inneren Sinne. Dort vollzieht sich gemäß der aristotelischen Erkenntnistheorie ein aufsteigender Abstraktionsprozess, der bestenfalls in der intellektuellen Durchdringung und der reinen Anschauung der „forma“ der Geliebten gipfelt. Durch die übermäßige Tätigkeit der Fantasie aber, die um das innere Bild der Geliebten unaufhörlich kreist wie um eine fixe Idee, erhitzt sich der Organismus des Betroffenen, was die Ausdehnung des schwarzen Gallensaftes, ebenjener „melancholia“ zur Folge haben kann. Die Liebesreflexion wird dann in melancholischer Manier zum Selbstläufer und koppelt sich zunehmend von der Außenwelt, ja paradoxerweise vom geliebten Gegenstand selbst ab. Die Liebe, in ihrer Entstehung auf den visuellen Eindruck verwiesen, löst sich von diesem und wird sprichwörtlich blind.

Giacomo da Lentini, der Mitbegründer der sizilianischen Dichterschule am Hof des Staufferkönigs Friedrichs II., ist Mitte des 13. Jahrhunderts der Erste, der diesen Mechanismus in einem seiner Gedichte ausdrücklich darstellt. Als endlich der ersehnte Moment gekommen ist, da das schwerverliebte lyrische Ich der Dame seiner Wahl gegenübersteht, wendet es bewusst die Augen ab, um sie nicht sehen zu müssen. Aus der Verzweiflung über die Unerreichbarkeit der Liebe – oder aber über die Unzulänglichkeit der Realität – zieht es das schöpferische Individuum vor, sich im Innenraum melancholischer Reflexion eine Parallelwelt des Geistes zu erschaffen, aus deren prekärem Urgrund wiederum, laut der neu entdeckten aristotelischen Seelenlehre, die höchste Erkenntnisleistung hervorgehen kann. Lange Zeit vor der Renaissance erleben wir in der mittelalterlichen Liebeslyrik also die (Wieder-)Geburt der Fantasie aus dem Geiste der Melancholie.

Die Liste der in dieser Tradition stehenden neuzeitlichen Liebesmelancholiker indes ist lang. Zu nennen wären unter anderem so unterschiedliche Figuren wie Hamlet, Werther, Scarlett O’Hara, Swann und Hans Castorp. Letzterer beispielsweise schließt in Thomas Manns „Zauberberg“, ähnlich wie jener mittelalterliche Dichter, lieber die Augen, statt das ebenso idealisierte wie unerreichbare Phantasiegebilde seines Geistes zu zerstören: „Hans Castorp wusste (...), dass Frau Chauchat im Profil nicht günstig aussah, etwas scharf, nicht mehr ganz jung. Die Folge? Er vermied es, sie im Profil zu betrachten, schloss buchstäblich die Augen, wenn sie ihm zufällig von fern oder nah diese Ansicht bot.“

Vielleicht sollten auch wir heute öfter an die mittelalterliche Tradition anknüpfen? Schließen wir die Augen: Vergegenwärtigen wir uns, was wir in unserem Partner sehen wollen, oder was wir in ihm sahen, als wir uns in ihn verliebten. Denn, so der ungarische Schriftsteller Antal Szerb: „Die Liebe konserviert einen einzigen Augenblick, den Augenblick ihres Entstehens, und wer geliebt wird, altert nie.“

Die Autorin promovierte an der Freien Universität zum Thema Melancholie und Liebe („Der Blick der Liebenden und das Auge des Geistes“, Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg).