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Ein poetischer Chronist bundesdeutscher Zustände

Der Pfarrerssohn aus Hessen geht 1963 zum Literaturstudium nach Berlin, in die „Stadt der deutschen Widersprüche“, wie er selbst sagt. Foto: A. Bachinger

Der Pfarrerssohn aus Hessen geht 1963 zum Literaturstudium nach Berlin, in die „Stadt der deutschen Widersprüche“, wie er selbst sagt. Foto: A. Bachinger

In einer Serie berichten wir über prominente Alumni der Freien Universität. Heute: Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius

Von Matthias Thiele

Fast, erzählt Friedrich Christian Delius, als er im September in Koblenz den Joseph-Breitbach-Preis empfängt, fast wäre sein Leben von einem Sturm vor Capri ausgelöscht worden. Vor knapp fünf Jahren war das, am Tag des Einmarsches der amerikanischen Truppen im Irak. Mit einer Gruppe deutscher Künstler und Kulturvermittler fuhr er in einem Fischerboot zur Villa Malaparte, als die See unruhig wurde. „Geboren in Rom, ertrunken vor Capri – nein, solchen Kitsch wollte ich nicht in der Biographie stehen haben“, sagt Delius. Ein Gefühl der Ohnmacht habe ihn damals umfangen. Eine Ohnmacht, die er wohl immer wieder erfahren hat im Leben und der er mit der Macht seiner Worte zu begegnen versucht. „Als Wortmacher müssen Sie wissen, wann Worte nichts mehr ausrichten“, schränkt er ein und meint den Krieg im Irak. Und wieder spürt man sie, die Ohnmacht.

Der Pfarrerssohn Friedrich Christian wächst „stotternd und stumm“ im nordhessischen Wehrda und Korbach auf. Geboren ist er in Rom, sein Vater ist der Pastor der Deutschen Evangelischen Gemeinde in der Stadt der Päpste. Aber schon als Kleinkind kehrt er mit der Familie zurück nach Deutschland. Als Zehnjähriger, so schreibt Delius später in einem Selbstporträt, tippt er auf der Schreibmaschine seines Vaters einen „Weltplan“ und gibt als „Beruf“ Dichter an. Mit „gelähmter Zunge“ findet er seine Sprache. Nach und nach gewinnt er die Macht über die Wörter. Der Ohnmacht und der Angst stellt Delius eine klare, poetische Sprache entgegen, und so erfüllt sich der Wunsch des Zehnjährigen mit den Jahren tatsächlich: Delius dichtet und schreibt; für die Schülerzeitung zunächst, später für die „Waldecksche Allgemeine“.

Als er sein Abitur abgeschlossen hat, zieht es ihn in die Großstadt: „Ich wollte nicht nach Marburg gehen, wie viele meiner Freunde. Ich wollte weg aus der Kleinstadt“, sagt Delius. „Berlin hatte ich schon vor dem Bau der Mauer besucht, die Stadt gefiel mir. Mit der Familie Groscurth hatte ich gute Bekannte vor Ort, außerdem wollte ich nicht zur Bundeswehr – und Berliner wurden ja nicht eingezogen.“ Also bewirbt er sich zum Sommersemester 1963 an der Freien Universität und zieht „in die Stadt der deutschen Widersprüche“. Literatur möchte er studieren, sein Berufswunsch steht fest: Als Literaturredakteur oder Lektor will er arbeiten, Kontakt zu Autoren bekommen und schreiben. Bis die Universität seine Bewerbung geprüft hat, arbeitet Delius in einer Fabrik. Er wohnt zur Untermiete bei einer Witwe in Steglitz, am Botanischen Garten.

„Nach zwei Wochen hatte ich meine Zulassung und konnte mit dem Studium beginnen“, sagt Delius. Aber schnell ist sie wieder da, die Ohnmacht: Er quält sich durchs Mittelhochdeutsche, fällt durch die Gotisch-Klausur. „Das war erstmal eine harte Zeit“, sagt Delius. „Ich war ein Student, der nie etwas sagt, außer wenn er ein Referat zu halten hat.“ Dagegen genießt Delius die großen Vorlesungen im Audimax: „Das waren Veranstaltungen, bei denen ich viel gelernt habe: Wilhelm Emrich über die Barockliteratur und Eberhard Lämmert über das Erzählen – davon habe ich sehr viel gehabt.“

Neben dem Studium sucht Delius früh Kontakt zu anderen Autoren. In Literaturzeitschriften werden erste Gedichte von ihm veröffentlicht. In den Semesterferien geht er nach Frankfurt und arbeitet als Volontär im S. Fischer Verlag. Dort lernt er Klaus Wagenbach kennen, der ein Jahr später seinen eigenen Verlag in Berlin gründet. „So war ich also schon in ganz frühen Semestern ein wenig drin im literarischen Betrieb.“

Delius wird zur Gruppe 47 eingeladen, sein Studium läuft weiter. „Nach dem vierten Semester bin ich der Freien Universität allerdings abtrünnig geworden“, sagt er. An der Technischen Universität lernt er Walter Höllerer kennen. „Er wurde mein Doktorvater, aber zur Freien Universität bin ich weiterhin gerne zu Vorlesungen gegangen.“ Nach einem einjährigen Aufenthalt in London wird Delius 1970 für die Arbeit „Der Held und sein Wetter“ promoviert, arbeitet danach als Lektor bei Wagenbach und später im Rotbuch-Verlag.

In die Schlagzeilen gerät der junge Autor, als er den Siemens-Konzern zum 125-jährigen Firmenjubiläum mit einer satirischen Festschrift reizt: Delius wird verklagt, und die Gerichte müssen entscheiden, was Satire darf und was nicht. Immer wieder greift Delius in seinen Büchern gesellschaftliche Fragen auf – beschreibt in seinen Geschichten den Widerspruch zwischen Macht und Ohnmacht: Da ist die vom Terror des Deutschen Herbstes überschattete Liebesgeschichte in „Himmelfahrt eines Staatsfeindes“ oder die Geschichte der Familie seines Berliner Freundes Groscurth: In seiner autobiographischen Fiktion „Mein Jahr als Mörder“ hört der Berliner Literaturstudent im Radio, dass der Nazi-Richter Rehse vor Gericht freigesprochen wurde. Eben dieser Richter war verantwortlich für das Todesurteil gegen den Vater seines besten Freundes. Der Student beschließt, Rehse selbst zur Rechenschaft zu ziehen; er will ihn töten.

„F. C. Delius ist der poetische Chronist bundesdeutscher Zustände, Befindlichkeiten und Neurosen. Er macht das Gesellschaftliche im Privaten dingfest, geleitet von unbestechlichem Erkenntnisinteresse und ohne Hochmut“, heißt es in der Begründung der Jury zum Joseph-Breitbach-Preis.

1978 gibt Delius seinen Beruf als Lektor auf und zieht mit seiner damaligen Frau als freier Schriftsteller nach Nimwegen, später nach Bielefeld und schließlich nach Berlin. Heute lebt er zwei Drittel des Jahres in seiner Geburtsstadt Rom, denn dort arbeitet seine zweite Frau. Aber auch in Berlin hat er noch immer eine Wohnung.

Die Geschichte mit dem Fischerboot vor Capri ging übrigens so aus: „Als wir die Nordostspitze der Insel passiert hatten und das Boot nach Süden abdrehte, wurde der widrige Wind zum Rückenwind, und ganz allmählich stellte sich die Erleichterung ein, aller Voraussicht nach nicht ersaufen zu müssen.“