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Vom Sinn der Sonntagsfrage

Wie Politik und Medien Erkenntnisse der Meinungsforscher für ihre Zwecke nutzen

Von Juliana Raupp

Vielleicht werden wir es wieder vor der Landtagswahl am 13. Mai in Bremen erleben, wahrscheinlich vor den Landtagswahlen im kommenden Jahr und mit Sicherheit vor der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2009: das Schaulaufen der Demoskopen. In Wahlkampfzeiten kommt es regelmäßig nicht nur zu einem Showdown der Kandidaten, sondern auch zur Kraftprobe der Meinungsforscher. Die Medien und die von ihnen beauftragten Volksbefrager werden versuchen uns vorherzusagen, wer die Wahl gewinnen wird. Dies ist allerdings keine wirkliche Vorhersage, sondern eine Momentaufnahme der Verteilung der Wahlabsichten. Vor Wahlen haben diese demoskopischen Erhebungen Hochkonjunktur. Aber auch im politischen Alltag sind Umfragen längst ein fester Bestandteil des politischen Geschäfts. Als Fernsehzuschauer und Zeitungsleser sind wir regelmäßig mit unserer eigenen Meinung und der unserer Mitbürger konfrontiert. Aber was macht eigentlich die Politik mit solchen Befragungsergebnissen? Wieso sind diese Umfragen für die Medien so interessant? Und was bedeutet diese „Umfragerei“ für unser demokratisches Gemeinwesen?

An die Verwendung von Umfragen in der Politik werden in der Wissenschaft Hoffnungen geknüpft, etwa auf eine größere Responsivität des politischen Systems – also eine bessere Rückkopplung der politisch Handelnden. Zugleich bestehen Befürchtungen im Hinblick auf eine Plebiszitarisierung der repräsentativen Demokratie. Plebiszitarisierung meint, dass politische Akteure die Medien zur direkten Bürgeransprache und damit als Plattform der Legitimationsbeschaffung nutzen. Diesen Hoffnungen wie Befürchtungen liegt implizit die Vorstellung zugrunde, Umfragen hätten einen unmittelbaren Einfluss auf das politische Entscheidungshandeln. Empirische Untersuchungen ziehen diese Vorstellung jedoch in Zweifel: Für Politiker und Mitarbeiter in Parteien und Regierungsorganisationen sind Umfragen nur eine von mehreren Informationsquellen, um etwas über öffentliche Meinung zu erfahren. Aus Untersuchungen zur Responsivität des politischen Systems ist überdies bekannt, dass zwar ein Zusammenhang zwischen der durch Umfragen ermittelten öffentlichen Meinung und politischen Entscheidungen besteht – dieser ist aber nicht nur in eine Richtung wirksam und variiert zudem in den verschiedenen Politikfeldern.

Dass Umfrageergebnisse nicht unmittelbar in politische Entscheidungen umgesetzt werden, heißt aber nicht, dass sie für die Politik und für politische Parteien keine Bedeutung hätten. Vielmehr werden Umfragen intensiv in der politischen Kommunikation und vor allem im Wahlkampf genutzt. Das Interesse an Wählerpotenzialanalysen und Ergebnissen über die Popularität von Parteien, Personen und Themen im Wahlkampf ist groß. Umfragen werden von den Parteien verwendet, um daraus politisches Kapital zu schlagen, und zwar sowohl parteiintern als auch öffentlich. Wenn der Partei daraus ein Vorteil entsteht, werden Umfrageergebnisse bewusst so kommuniziert, als ob sie quasi zufällig an die Öffentlichkeit gelangen, um bestimmte Stimmungen zu bestärken oder abzuschwächen. Diese instrumentelle Nutzung von Umfragen findet jedoch nicht regelmäßig statt, sondern fallweise: je nach Thema, nach Position der Partei und nach dem Verlauf des Wahlkampfes. Der Regierung ist es dagegen untersagt, im Wahlkampf politische Werbung zu betreiben. Deshalb unterlässt sie es auch, während dieser Zeit Popularitätsbefragungen in Auftrag zu geben. Das Bundespresseamt und die Fachministerien geben eher themenbezogene Umfragen in Auftrag und lassen die Zustimmung zu einzelnen Politikvorhaben abfragen. Nur vereinzelt wird systematisch nach der Vermittlung von Politik gefragt; eine umfragegestützte Bewertung der politischen Kommunikation wird höchst selten vorgenommen. So unterliegt die Verwendung der politischen Meinungsforschung durch die Parteien, aber auch durch die Exekutive, einer primär politischen Verwertungslogik.

Auch die Medien nutzen Umfragen für ihre Zwecke. Sie richten sich dabei aber weniger nach politischen Gesichtspunkten als vielmehr danach, inwieweit eine Umfrage einen Beitrag trägt. Je nach journalistischem Format können Umfragen ganz verschiedene Funktionen erfüllen: Sie liefern Hintergrundinformationen, sie lassen sich als Unterhaltungselement einsetzen, und mit ihrer Hilfe können komplexe Sachverhalte vereinfacht dargestellt werden. Dabei kommt die Sorgfalt, die bei der Berichterstattung über Umfrageergebnisse nötig ist, oft zu kurz. Systematische Inhaltsanalysen der Berichterstattung über Umfragen zeigen: Nur zu einem geringen Teil werden dort methodische Informationen mitgeteilt. Je nach methodischer Angabe schwankt die Nennung zwischen zehn und 60 Prozent. Am häufigsten werden das durchführende Meinungsforschungsinstitut und die Anzahl der Befragten genannt, am seltensten das statistische Verfahren der Stichprobenziehung, der Erhebungszeitraum und die Fehlertoleranz, die bei 1000 Befragten bei etwa drei Prozent liegt. Das bedeutet, dass die in den Methoden der repräsentativen Meinungsforschung begründete Ungenauigkeit für den Leser oder Zuschauer nicht erkennbar ist. So wird irrtümlich der Eindruck erweckt, die Daten seien endgültig und bis auf die letzte Stelle hinter dem Komma genau.

Eine Ursache dafür, dass die Medien diese Informationen nur unzureichend vermitteln, liegt an den unterschiedlichen Handlungslogiken von Journalismus und Demoskopie: Journalisten müssen schnell arbeiten, Meinungsforscher dagegen brauchen Zeit, um Fragebögen zu entwickeln und Daten zu erheben. Die Interpretation der einmal erhobenen Daten erfordert Raum. In den Medien aber steht nur ein begrenzter Platz zur Verfügung. Journalismus ist an Nachrichtenwerten orientiert und benötigt bündige Antworten, die sich auf beschränktem Platz unterbringen lassen. Umfrageforschung dagegen liefert Tendenzen und oft ambivalente Ergebnisse, die einer sorgfältigen Interpretation bedürfen. Methodische Präzision bleibt angesichts dieser unterschiedlichen Handlungslogiken in der Medienberichterstattung oft auf der Strecke.

Politische Meinungsforschung ist aus der medialisierten und beschleunigten politischen Kommunikation nicht mehr wegzudenken. Die Meinungsforscher stehen unter dem Druck, immer schneller und immer preiswerter Zahlen liefern zu müssen. Gleichzeitig steht die Demoskopie vor neuen methodischen Herausforderungen: Es erfordert einen immer höheren Aufwand, einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung zu erreichen; die Individualisierung des Wählerverhaltens und die Zergliederung der politischen Meinungen erschweren langfristige Trendberechnungen. Gerade deshalb ist es wichtig, hohe Qualitätsstandards nicht nur bei der Erhebung, sondern auch bei der Vermittlung und Veröffentlichung von Daten einzuhalten. Die Qualität der Umfrageforschung und Umfrageberichterstattung ist aber nicht nur für die Demoskopie als Berufsfeld von entscheidender Bedeutung, sondern auch für den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung. Öffentliche Meinung ist in modernen Wissens- und Mediengesellschaften zergliedert. In diesem Zusammenhang kommt der Umfrageforschung auch unter demokratietheoretischer Perspektive eine wichtige Funktion zu: Umfrageergebnisse könnten das notwendige Feedback, also die Rückantwort, auf Kommunikationsmaßnahmen in einer massenmedial verfassten Öffentlichkeit liefern. Wenn jedoch die politische Kommunikation auf der Grundlage von Meinungsforschungsdaten handelt, die selbst von strategischer politischer Kommunikation beeinflusst worden sind, dann droht der Feedback-Mechanismus blind zu werden. Gefordert sind deshalb ein kritisches Bewusstsein jedes Einzelnen im Umgang mit den Daten der Meinungsforschung – und eine Wissenschaft, die nach ihrem Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung fragt.

Die Autorin ist Professorin mit Schwerpunkt Organisationskommunikation am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Freien Universität Berlin.