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Die Dokumente des Holocaust

Von Dieter Lenzen

Aus der Filmrezeptionsforschung wissen wir, dass Menschen auf ganz unterschiedliche Weise einen Film verarbeiten. Dies gilt besonders für die Darstellung des Todes. Wir wissen, dass jüngere Menschen eher als ältere Distanzierungsformen gegenüber dem dargestellten Tod entwickeln und dass männliche Jugendliche und junge Erwachsene dieses eher tun als Mädchen und junge Frauen. Die einen lassen sich mehr auf die Geschichte ein als die anderen, die sich emotional „in Sicherheit bringen“, indem sie die Geschichte als Fiktion betrachten und sich mit dem Blick auf die Machart, die Leistung der Schauspieler und des Regisseurs so entfernen, dass sie für ihr Verhalten keine Konsequenzen ziehen müssen.

Wer „Schindlers Liste“ gesehen hat, weiß, warum dieser Film Steven Spielbergs ein Meisterwerk ist. Zumindest die Älteren unter uns können die Augen kaum auf der Leinwand halten angesichts dessen, was sie sehen. Aber wird das für einen jungen Menschen in zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahren noch genauso sein, dass er erstarrt, wenn er den Lagerkommandanten zum Zeitvertreib aus seinem Schlafzimmerfenster auf die Menschen draußen schießen sieht? Oder werden sie sich verhalten wie routinierte Filmbetrachter und so das Gesehene als Fiktion verbuchen?

Steven Spielberg wollte es nicht darauf ankommen lassen. Er hat die Sammlung von fast 52 000 Interviews mit Überlebenden des Holocaust angeregt und angeleitet, die für amerikanische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu ihrer Forschung zur Verfügung stehen. Für Menschen auf dem Kontinent, auf welchem das Entsetzliche geschah, war der Zugang zu diesen authentischen Dokumenten nicht leicht. Auch mochte sich die Frage stellen, an welcher Wissenschaftseinrichtung in Deutschland ein solcher Zugang am ehesten angemessen sein würde. Die Shoah Foundation hat die Entscheidung getroffen, dass dieses die Freie Universität Berlin ist, die als Nachkriegsgründung wie keine Zweite Kristallisationspunkt der Folgen der unbeschreiblichen Verbrechen geworden ist: Als freie Universität gegen politische Unterdrückung und Verfolgung von Studierenden gegründet, von denen viele wegen ihrer Herkunft während des Nationalsozialismus nicht studieren durften, war sie von Beginn an Lehrstätte für namhafte jüdische Gelehrte, die aus dem Exil nach Berlin zurückkamen und die Universität prägten und – unter anderem auch als Rektoren – gestalteten.

Die Freie Universität hat diese Würdigung durch die Shoah Foundation und die damit verbundene Verpflichtung vor dem Horizont der deutschen Geschichte gern und mit Ernst angenommen.

Der Autor ist Präsident der Freien Universität Berlin.