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Schriftsätze im Cyberspace

In der „virtuellen Anwaltskanzlei“ simulieren angehende Juristen den Berufsalltag

„Vergessen Sie so gut wie alles, was Sie aus dem Fernsehen über das Berufsbild des Anwalts kennen“, sagt der Berliner Rechtsanwalt Ekkehard Jost. Die mahnenden Worte des Gastredners richten sich an Jura-Studierende der Freien Universität Berlin, die einen der raren Plätze in dem Praxisprojekt „Die virtuelle Anwaltskanzlei“ ergattern konnten – denn das Seminar ist heiß begehrt. „Man muss für das Abschlussexamen eine so genannte Schlüsselqualifikation erwerben“, erklärt Robert Reinhardt, „und die kann man beispielsweise durch die regelmäßige und damit erfolgreiche Teilnahme bei dieser Projektgruppe bekommen.“ Der studentische Mitarbeiter des Webteams am Fachbereich Jura weiß, wovon er spricht: Er hat bereits im Sommersemester 2005 die „virtuelle Anwaltskanzlei“ besucht. Nun organisiert der Student die hoch geschätzte Veranstaltung. „Wir bekommen durchweg positive Resonanzen“, freut sich Reinhardt, „und könnten die vorhandenen Plätze drei Mal vergeben.“

Ziel des Seminars ist es, die praktische Arbeit als Anwalt so realistisch wie möglich am Computer zu simulieren. Dazu werden die Studierenden zu Beginn des Semesters mit einem fiktiven Fall konfrontiert, wie er auch in der alltäglichen Praxis vorkommen könnte. Schritt für Schritt bearbeiten sie interaktiv den Fall. Ein Verfahren reicht pro Semester völlig aus, denn schließlich sollen die angehenden Juristen nicht nur lernen, welche Gesetzestexte sie anwenden müssen, sondern auch, was sie später als Anwalt zu beachten haben – von der Auswahl des Gerichtsstandes über die effiziente Organisation aller Betriebsabläufe in einer Kanzlei bis hin zur Gebührenabrechnung. „Das ist wichtig, denn als Anwalt ist man auch Unternehmer in eigener Sache“, sagt Robert Reinhardt. Im Mittelpunkt steht vor allem der Umgang mit der bereitgestellten Software, mit deren Hilfe ein Fall von Anfang bis Ende bearbeitet und dokumentiert werden kann – genau so, wie es im späteren Berufsalltag praktiziert wird.

Der Anstoß für die „virtuelle Anwaltskanzlei“ war die 2003 in Kraft getretene Juristenausbildungsreform. Deren Anliegen ist es, die theoretische Ausbildung an der Universität stärker an der Praxis auszurichten – vor allem an der praktischen Arbeit des Anwalts. „Die meisten Studierenden ergreifen später den Beruf des Anwalts“, sagt Andreas Fijal, Leiter des Studien- und Prüfungsbüros des Fachbereichs Rechtswissenschaft, der maßgeblich an der praktischen Umsetzung der Juristenausbildungsreform an der Freien Universität Berlin beteiligt war. „Deshalb sollten die Studierenden so früh wie möglich erfahren, was genau sie später als Anwalt erwartet.“

Als Partner für die Projektgruppe konnte die Berliner Firma RA WIN 2000 gewonnen werden, die auf Softwarelösungen für Anwaltskanzleien spezialisiert ist. Das Unternehmen liefert nicht nur die nötigen EDV-Programme für die Projektgruppe. Axel Schulz, Geschäftsführer von RA WIN 2000 und selbst Jurist, übernahm auch den Lehrauftrag und begleitet die Studierenden als Gastdozent während des Semesters. Dass er jemals wieder an die Universität zurückkehren würde, hätte sich Schulz zwar nicht träumen lassen, aber: „Es macht mir einfach Spaß, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden“, sagt der Dozent.

Jewgenij Gamal hat durch Kommilitonen von dem Kurs erfahren. „Was ich hier im Kurs lerne, wird im Beruf sicherlich eine große Hilfe sein“, meint der Jura-Student im siebten Semester. „Schön ist auch, dass ich in diesem Kurs keine Klausur schreiben muss“, fügt er noch mit einem Augenzwinkern hinzu. Das wird sich aber schon ab dem nächsten Semester ändern. Dann steht am Ende des Seminars eine Prüfung.

Wer an der „virtuellen Anwaltskanzlei“ teilnehmen will, sollte im sechsten Semester studieren, um das nötige juristische Basiswissen mitzubringen. Vor allem darf man aber nicht zu lange zögern: Keine zwei Stunden nach Veröffentlichung der Anmeldebögen für das Sommersemester im Internet waren die Plätze schon vergeben. Kein Wunder: Schließlich werden fast 70 Prozent der Jura-Absolventen später den Beruf des Anwalts ergreifen, nur noch 30 Prozent wählen andere juristische Berufsfelder. Leider kann die virtuelle Kanzlei derzeit aber nur 16 Teilnehmer aufnehmen: „Die Zahl der vorhandenen Plätze ist an die Anzahl der Rechner gekoppelt“, erklärt Robert Reinhardt. „Da jeder Teilnehmer während des Semesters interaktiv an dem Fall mitarbeiten soll, muss er auch an einem eigenen Computer-Arbeitsplatz sitzen.“ Für das nächste Semester wird der PC-Pool auf 25 Arbeitsplätze aufgestockt. Viel mehr ist nicht sinnvoll, weil die individuelle Betreuung sonst leidet. Auch diese Plätze werden aber schnell ausgebucht sein: „Ich werde den Kurs jedenfalls weiterempfehlen“, sagt Madlen Lier, sechstes Semester. „Hier wird vermittelt, was man später in der Kanzlei braucht.“ Auch wenn es bei ihr bis dahin noch etwas dauern wird.

Von Bernd Wannenmacher