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Schwerelos und erdverbunden

Wissenschaftler der Freien Universität Berlin erforschen die Wirkung extremer Umwelten und gehen dafür in die Luft

Tropen, Wüste, Hochgebirge – es liegt in der Natur seines Forschungsgebietes, dass Hanns-Christian Gunga bereits viele außergewöhnliche Umwelten kennen gelernt hat. Vor einigen Wochen betrat er wieder Neuland, ging in die Luft und erlebte wahrhaft Überirdisches. Zunächst aber war er froh, nicht von Übelkeit geplagt zu werden, und das, obwohl sein Körper bei der neuen Unternehmung den schnellen Wechsel von doppelter Erdanziehungskraft und Schwerelosigkeit aushalten musste – 31 Mal hintereinander.

Der Professor für Physiologie und diplomierte Geologe erforscht am Institut für Physiologie der Freien Universität Berlin (Charité - Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin) den Menschen in extremen Umwelten, besonders die Reaktionen der verschiedenen Organsysteme und die Auswirkungen auf die Psyche. Zugleich ist der Wissenschaftler Sprecher des Zentrums für Weltraummedizin Berlin (ZWMB), dem größten weltraummedizinisch ausgerichteten, interdisziplinären Forschungsnetzwerk einer europäischen Universität. Hier untersuchen Mediziner, Biowissenschaftler, Ingenieure und Techniker die Fragen: Was passiert mit dem menschlichen Organismus im Weltraum, wie wirkt sich die Schwerelosigkeit aus? Mit Einfallsreichtum werden Situationen in den irdischen Laboren simuliert. Bekanntes Beispiel ist die Berliner Bedrest-Studie, in der Probanden wochenlang liegen mussten, um die Auswirkungen einer möglichen Reise zum Mars auf Muskel und Knochen zu testen.

Jetzt, im September, war es soweit: Gunga und sein Team nahmen zum ersten Mal an Forschungsflügen im Rahmen der 7. Parabelflugkampagne des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) teil und bestiegen den Airbus A300 Zero-G, ein großes fliegendes Labor, wobei Zero-G für null Gravitation steht. Nachdem die Ausrüstung für die Experimente in der Kabine gesichert war, begann das Unternehmen wie ein normaler Flug. Dann, in 6100 Meter Höhe, gab der Kapitän vollen Schub, zog das Flugzeug steil nach oben, und für 20 Sekunden wirkt auf Mensch und Maschine die doppelte Schwerkraft – die Hyper-G-Phase war erreicht. „Wenn Sie in Hyper-G den Kopf bewegen, ist das sehr unangenehm. Jeder Rezeptor im Gleichgewichtsorgan erhält nun Informationen in doppelter Stärke, das ist doch etwas viel für unser Gehirn“, berichtet der Weltraummediziner. Gleich drei Piloten sind damit beschäftigt, die Maschine in dieser Phase im Steigungswinkel von bis zu 47 Grad zu halten.

Nach diesen „endlosen“ 20 Sekunden und in etwa 7,5 Kilometer Höhe werden die Triebwerke gedrosselt und der Airbus segelt wie aus dem Katapult geschleudert weiter Richtung Himmel. „Zack, wie mit einem Schalter angeknipst, setzt in diesem Moment die Schwerelosigkeit ein, die Spannung aus Hyper-G steckt noch in den Armen und die werden nun ganz sanft angehoben“, schildert der Berliner Wissenschaftler den Beginn der insgesamt etwa 22 Sekunden dauernden Mikrogravitationsphase (Mikro-G). Bei geschlossenen Augen war er sich nicht sicher, ob er oben oder unten war. Warum man an der Decke schwebt, ist einfach zu erklären: Die ganze Zero-G-Kabine ist ausgestattet wie eine Gummizelle, alles ist zur Sicherheit dick gepolstert. Der Schaumstoff wird nun durch Hyper-G komprimiert und dehnt sich bei Mikro-G um etwa zwei Zentimeter wieder aus. Dieser kleine Kick reicht, um einen Menschen in der Schwerelosigkeit wie von einem Trampolin an die Kabinendecke zu befördern.

Tausend Meter höher, auf 8500 Meter, ist der Scheitelpunkt der Segelflugkurve erreicht, die Nase des fliegenden Arbeitszimmers senkt sich, und die Erdanziehung holt die Passagiere aus der Schwerelosigkeit in die nächste Hyper-G-Phase. Wieder auf 6100 Meter Höhe angelangt, beschleunigt der Pilot und leitet nach einer kurzen Verschnaufpause von einer Minute die nächste Parabel ein. An vier Tagen werden jeweils 31 Parabeln nonstop absolviert.

Die eigentliche Arbeit des Berliner Weltraummedizinteams an Bord des Airbus' bestand in der Untersuchung eines Phänomens, das allen Astronauten bekannt ist: In der Schwerelosigkeit bekommen selbst asketisch aussehende Menschen ein aufgedunsenes Gesicht, das so genannte „Puffy Face“. Der Grund dafür ist bekannt: Ohne Schwerkraft werden im Körper rund anderthalb Liter Flüssigkeit aus den Gefäßen und dem Gewebe der Beine und der unteren inneren Organe in den Brust- und Kopfbereich verlagert. Wichtigster Transportweg ist die untere Hautschicht. Unbekannt war bislang, wie schnell der Körper auf Schwerelosigkeit mit der Flüssigkeitsverlagerung reagiert. Um das herauszufinden, hat das Forscherteam die Hautdicken am Unterschenkel und an der Stirn eines am Boden liegenden Probanden mit einem speziellen Ultraschallgerät gemessen. Mit dem neu entwickelten Instrument kann die Veränderung der Hautdicke entlang des ganzen Schienbeins untersucht werden. Es liegen schon erste Ergebnisse vor, berichtet Gunga: „Wir werten gerade die Daten aus, aber aus den punktuellen Messungen, die wir ebenfalls gemacht haben, wissen wir, dass die Flüssigkeit innerhalb von Sekunden nach Eintritt der Schwerelosigkeit zum Oberkörper und Kopf verteilt wird.“

Das „Puffy Face“ ist für den Mediziner auch psychologisch interessant, denn da die Mimik eingeschränkt ist, fehlt für die Astronauten ein ganzer Informationskanal. So können im Weltraum Missverständnisse entstehen, die zum Problem werden könnten, wenn man auf engstem Raum drei Jahre zum Mars unterwegs ist. Da dieses Phänomen während der Schwerelosigkeit bestehen bleibt, hoffen die Weltraummediziner der Freien Universität Berlin mit ihrer Grundlagenforschung auf Ansätze zu stoßen, aus denen Gegenmaßnahmen entwickelt werden könnten.

Der Sinn der Parabelflüge besteht für die Wissenschaftler im Verständnis physiologischer Vorgänge und der Methodenentwicklung. Erst wenn die Experimente bei diesen Flügen verwertbare Ergebnisse liefern, können sie bei langen Weltraumreisen eingesetzt werden. Zudem ist der Start des Airbus A300 Zero-G preisgünstiger als der eines Space Shuttles.

Neben den Flüssigkeitsverschiebungen und der Muskel- und Knochenbeeinflussung werden am Zentrum für Weltraummedizin Berlin die Wirkungen der Schwerelosigkeit auf die Koordination zwischen Augen und Kopf, das Gleichgewichtsorgan und sogar auf Zellen erforscht, die die Innenwände der Gefäße auskleiden. Die Arbeiten haben irdischen Nutzen. So gewinnen die 25 Wissenschaftler des Zentrums neue Erkenntnisse über Reiseübelkeit oder spezielle Muskeltrainingsgeräte, die Sportlern zur Leistungssteigerung, aber auch Patienten, die nicht gehen können, zur Verfügung gestellt werden. Und auch Studenten profitieren von den Forschungen – im Wintersemester wird wieder eine Vorlesungsreihe zur Gravitationsphysiologie angeboten.

Mit beiden Beinen auf der Erde steht Hanns-Christian Gunga auch, wenn er am Institut für Physiologie mit seiner Arbeitsgruppe den Menschen in extremen Umwelten erforscht. „Seitdem wir aufrecht gehen, seit etwa sieben Millionen Jahren“, erklärt Gunga, „müssen wir gegen die Schwerkraft arbeiten. Das Problem ist noch nicht gelöst, wenn wir uns nur die Bandscheiben oder venöse Erkrankungen, wie Krampfadern, ansehen“.

Die Physiologen gehen davon aus, dass der Mensch bis vor 100 000 bis 200 000 Jahren in mittleren Höhenlagen gelebt und sich unser Organismus an dieses Mittelmaß angepasst hat. Welchen Einfluss das auf unsere Leistungsfähigkeit hat, wird gerade bei Minenarbeitern im Goldbergbau, im Hochgebirge oder beim Marathonlauf untersucht. Mittlerweile hat die Europäische Union das Thema „Leben in extremen Umwelten“ entdeckt und eine eigene Kommission dazu eingerichtet. Auf einem Treffen Ende Oktober in Frankreich hat Hanns-Christian Gunga die deutsche Seite vertreten. Das Thema ist also „extrem“ anregend und die nächsten Forschungen laufen schon. Worum es dabei geht, wurde noch nicht verraten.

Von Mathias Manych