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Die Dimension der Heimat

Eine finnische Journalistin auf Spurensuche eines gefühlten Begriffs

Der Begriff "Heimat" gilt im Ausland als typisch deutsch - zumal es in vielen Sprachen für Heimat im deutschen Sinne keine Übersetzung gibt. Im Rahmen des Europäischen Journalistenkollegs verbrachte die finnische Journalistin Kristiina Markkanen von der größten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat ein Jahr in Berlin und erlebte, wie Holländer und Franzosen der Europäischen Verfassung per Referendum eine Absage erteilten. Europa schien ihnen (noch) nicht zur Heimat geworden zu sein. Dies brachte die Finnin auf die Idee, sich näher mit dem Heimatbegriff der Deutschen zu beschäftigen.

Für Ausländer ist das Wort "Heimat" einer jener verschleierten, mythischen Begriffe, deren Bedeutung ohne weiteres hintergründiges Wissen der deutschen Geschichte und Kultur kaum zu verstehen sind. "Das Wort Heimat gehört zu einem atmosphärisch geladenen Kernwortschatz, der das unübersetzbare Nationaleigentum der deutschen Sprache ausmacht", äußerte sich der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk in einem Beitrag. Und in der Tat: Jede Sprache hat spezifische Ausdrücke, die ihre nationale Eigenart widerspiegeln. Für uns in Finnland bedeutet beispielsweise das Wort Talvisota, also Winterkrieg, weit mehr als die deutsche Übersetzung "ein Krieg im Winter 1939-1940".

In meinem Berliner Studienjahr machte ich mich auf und suchte Interviewpartner, um mit ihnen über den Begriff Heimat zu diskutieren. Zu meiner Freude, aber auch Überraschung stellte ich fest, dass der Begriff "Heimat" die Menschen in Berlin sehr berührt. Jedes Mal, wenn ich mein Projekt vorstellte, entfachte ich damit heiße Diskussionen. Dabei hatten mich gute Freunde zunächst von diesem Thema abringen wollen. Sie warnten mich, da sie annahmen, ich würde vor allem ungebildete Menschen treffen, die regelmäßig "Heimatstadl" gucken und ein altmodisches Bild von Deutschland als Alpenidyll besitzen.Oder, so fürchteten meine Freunde, könnte ich dem anderen Extrem begegnen, den westdeutschen Alt-68ern. Sie benutzten das Wort Heimat gar nicht, da es aus der Zeit des Nationalsozialismus zu belastet sei. Außerdem gäbe es noch die Heimatvertriebenen, die Ansprüche auf alte, verlorene Gebiete geltend machen wollen. Also sprach ich mit Erika Steinbach, der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen. Sie erzählte mir von den Motiven der Heimatvertriebenen, aber auch von ihren persönlichen Erfahrungen. Heimatlich verorten kann sie sich nur schwer. "Heimat für mich war immer meine Mutter", so Steinbach.

Überraschend für mich war, wie DDR-Bürger mit dem Begriff Heimat umgingen. In der DDR galt er einerseits als bürgerlich und damit als abzulehnen. Andererseits wurde der Terminus in plakativer Weise dafür benutzt, um die Bevölkerung auf ein "sozialistisches Vaterland" einzuschwören. Ich befragte Günter Schabowski, den "Maueröffner", und Mitglied des Politbüros der ehemaligen DDR. Schabowski bezeichnete sich als "Mensch mit Weltsicht" und als Kommunist, für den die Idee der Heimat viele Jahre bürgerliches Spießertum bedeutet habe. Erst nach dem Mauerfall habe er die positiven Seiten des Heimatgefühls entdeckt. Seine Einstellung deckt sich mit einer Umfrage des "Spiegel" vom Mai zum Thema "Heimat". Danach bestätigten nur 33 Prozent der befragten Westdeutschen, eine Beziehung zu ihrer Heimat zu haben, während es bei den Ostdeutschen 45 Prozent waren. Kein anderer Wert der Umfrage unterscheidet sich so stark bei den beiden Gruppen. In der Frage nach den Werten der Deutschen landete Heimat und Heimatverbundenheit in Gesamtdeutschland auf dem zehnten Platz, nach Ehrlichkeit, Meinungsfreiheit, Verantwortung für nachfolgende Generationen, soziale Gerechtigkeit, die Gleichberechtigung der Frau, Umweltbewusstsein, Disziplin, wissenschaftlicher und technischer Fortschritte und Leistungsbereitschaft.

Mir wurde klar, dass der Begriff "Heimat" eine große Rolle in der deutschen Kultur spielt und durch die Vergangenheit auch negativ besetzt ist. Ich wollte deshalb wissen, was Heimat für die normalen Menschen bedeutet, ob junge Leute dieses Wort überhaupt noch benutzen undhabe deshalb lange Gespräche mit Menschen der unterschiedlichsten Berufe, Altersstufen und Wohnorte geführt. Eine Ost-Berlinerin erzählte mir, für sie sei Heimat der Bezirk Mitte mit dem Alexanderplatz, dem Café Moskau und dem Kino International. Für eine West-Berlinerin war der Hohenzollernplatz 75 Jahre Heimat, trotz der schrecklichen Kriegserfahrungen.

Ein 90-jähriges Ehepaar aus Baden-Württemberg berichtete mir vom so genannten Heimatkundeunterricht in den 20er Jahren. Das ältere Ehepaar benutzte völlig selbstverständlich den Begriff "Heimat", während die jüngere Generation und Ostdeutsche das Wort oft nicht verwenden. Dennoch haben alle ein Heimatgefühl. Ich habe sehr interessante und berührende Geschichten gehört. Alle Gespräche sind für mich wichtige, historische Dokumente, die die Frage beantworten: Wie erleben Menschen in Deutschland heute diesen intimen Lebensraum Heimat? Mein Eindruck ist der, dass - auch wenn der Begriff sehr individuell gefasst wird - Heimat am Anfang des 21. Jahrhunderts eine zunehmende Bedeutung gewinnt, 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, 16 Jahre nach dem Ende der DDR, in Zeiten Europas und der Globalisierung.

Von Kristiina Markkanen