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Konfrontation führt zu Toleranz – im Darm

Bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen müssen Patient, Arzt und das Immunsystem lernen

Bereits ein Jahr litt der damals 20-jährige Carsten B. unter häufigen Durchfällen. Da aber zunächst weitere Anzeichen einer Krankheit fehlten, wurde ein Arztbesuch auf die lange Bank geschoben und die Verdauungsstörungen mit Prüfungsstress während des Studiums begründet. In jungen Jahren ist man meist noch recht unbesorgt, wenn es um die eigene Gesundheit geht, wie Carsten B. zurückblickend feststellt. Damals erkrankte er an Colitis ulcerosa, einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung.

Als der junge Mann nach zwölf Monaten zu seinem damaligen Arzt ging, hatte dieser zwar die Krankheit vermutet, aber nicht gründlich untersucht. Diese Situation ist leider charakteristisch, wie Martin Zeitz, Direktor der Medizinischen Klinik für Gastroenterologie, Infektiologie und Rheumatologie auf dem Campus Benjamin Franklin der Charité, weiß: „Man hat festgestellt, dass Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen im Schnitt anderthalb Jahre brauchen, ehe die Diagnose gestellt wird, weil die Symptome zunächst verkannt werden – das wird manchmal als Reizdarm abgetan.“ Die Sensibilität zum Erkennen dieser Krankheiten lässt noch zu wünschen übrig. Ein banaler Durchfall sollte nach drei bis fünf Tagen abklingen, hört es dann nicht auf, sollte man auf jeden Fall zum Arzt gehen, rät Zeitz.

Etwa 200 000 Patienten mit Colitis ulcerosa gibt es Deutschland. Die Hauptsymptome der Erkrankung, bei der die Darmschleimhaut dauerhaft entzündet ist, sind sehr unangenehm: der erwähnte Durchfall, häufig auch blutig; Gewichtsabnahme sowie Bauchschmerzen. Die Entzündung betrifft den gesamten Dickdarm und bei sehr großer Ausdehnung auch den unteren Abschnitt des Dünndarms.

Morbus Crohn, die zweite, ebenso häufige Form der chronischen Darmentzündungen, kann grundsätzlich alle Abschnitte von der Mundhöhle bis zum Darmausgang befallen, am häufigsten jedoch Dünn- und Dickdarm. Die Entzündung dringt hier in die tieferen Schichten der Darmwand vor. Deshalb entstehen auch häufig Fisteln und Verengungen (Stenosen). Die Symptome gleichen denen der Colitis ulcerosa. Durch die Stenosen und Fisteln kommt es aber auch zu Darmverschlüssen und Fieber.

Beide Krankheiten selbst verringern nicht die Lebenszeit. Nach einer Krankheitsdauer von acht bis zehn Jahren erhöht sich bei Colitis ulcerosa allerdings das Risiko, dass in den ständig entzündeten Darmabschnitten Tumoren entstehen. Bei dem mittlerweile 40-jährigen Familienvater Carsten B. wurde vor sechs Jahren Darmkrebs mit Tochtergeschwüren in Lunge und Leber festgestellt. Nach der erfolgreichen Operation im Steglitzer Klinikum, anschließender Chemotherapie und der seither absolut konsequenten Medikamenteneinnahme gibt es bisher keine Krebserkrankung mehr und auch die Colitis ulcerosa ist im Moment kein Problem. Allerdings hat sich bei dem Patienten eine besondere Form der Gallenwegsentzündung entwickelt, die auch die Leber betrifft. Um zu vermeiden, dass sich hier wieder Tumoren entwickeln, ist eine Lebertransplantation nicht ausgeschlossen. Für Martin Zeitz charakterisieren Krebsentstehung im Darm und begleitende Lebererkrankung mit erneutem Krebsrisiko die besondere Problematik der Erkrankung.

Über die Ursachen und die Entstehung der chronischen Darmentzündungen wurde lange gerätselt. Es existiert eine genetische Veranlagung, die einen Auslöser aus der Umwelt braucht, um sich auszuwirken. Auffallend ist, dass die beiden Krankheiten besonders dort stark zugenommen haben, wo hohe hygienische Standards erreicht wurden: in Nordamerika, West- und Mitteleuropa, in Städten eher als auf dem Land.

So wird die Hygiene als wichtigster Umweltfaktor angesehen. Es deutet sehr vieles darauf hin, dass der Kontakt mit „Dreck“ für Kinder ein wichtiger Schutz vor chronischen Darmentzündungen ist. „Das Immunsystem im Darm muss sich mit Fremdstoffen auseinander setzen können, damit es lernt, adäquat zu reagieren“, erklärt Zeitz. Sonst wird die Immuntoleranz im Darm gestört – ausgerechnet gegen die körpereigenen Darmbakterien richtet sich das Immunsystem mit überschießenden Reaktionen.

Die Behandlung richtet sich zu allererst nach dem Krankheitsverlauf, der in einem Wechsel aus akuten Schüben und Ruhephasen besteht. Kortison und Immunsuppressiva helfen sehr vielen Patienten in der Schubtherapie. Medikamente wie Mesalazin verlängern die Ruhephase und verringern das Krebsrisiko. Die Mediziner versuchen allerdings mit biotechnischen Methoden wesentlich gezielter, den fatalen Immunirrtum zu unterbinden beziehungsweise zu korrigieren. Dazu gehören Antikörper, spezielle Probiotika oder auch Wurmeier.

In Zukunft wird sicherlich auch die Gentherapie eine wichtige Rolle spielen. Nun wollen Berliner Wissenschaftler gewissermaßen den gemeinsamen Nenner chronischer Entzündungskrankheiten finden. „Wir wollen Therapieprinzipien finden, die im Darm, in den Gelenken und in der Haut gleich gut wirksam sind“ fasst Martin Zeitz das Ziel des erst vor kurzem ins Leben gerufenen interdisziplinären Forschungszentrums zusammen, an dem er mit seinem Team sowie die Rheumatologie und Dermatolgie der Charité beteiligt sind und das den bezeichnenden Namen „BerlInflame“ erhielt.

Von Matthias Manych