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Warum feiern Brasilianer so gern Karneval

Leser fragen, Forscher antworten

Hartmut Becker (Potsdam) möchte wissen, warum die Brasilianer so gerne Karneval feiern. Es antwortet Dr. Sérgio Costa, beurlaubter Professor für Soziologie an der Universidade Federal de Santa Catarina, der zurzeit am Lateinamerika-Institut forscht und lehrt.

Feste und Rituale erfüllen in Gesellschaften wichtige Funktionen. Oft verstärken sie die individuelle Identifikation mit der sozialen Gruppe, da sie die geltenden Normen teilweise einstellen und das Experiment mit neuen Interaktionsformen fördern. In der hierarchisierten und extrem ungleichen brasilianischen Gesellschaft konnte der Karneval besonders gut gedeihen. Vier Tage lang tritt ein allegorisches Gleichheitsregime in Kraft: Was dabei zählt, sind nicht Geld, Bildung oder politische Macht, sondern die Beherrschung der Kunst des Feierns. Auch arme Leute können Karnevalskönige werden.

Bis zur Entstehung der Sambaschulen in Rio de Janeiro in den 1920er Jahren war dies anders. Der aus Europa importierte Karneval wurde schichtspezifisch zelebriert: Die Reichsten feierten mit Opernmusik, die neue urbane Mittelschicht organisierte ihre eigenen Umzüge, während die Armen die afro-brasilianischen Musikrichtungen auf die Straßen brachten.

In den Sambaschulen werden diese verschiedenen Traditionen in einen Karnevalsumzug zusammengefügt, der zu einem visuellen und medialen Ereignis wird. Seit den 1940er Jahren avancierte der Karnevalsumzug aus Rio zu einer Art offiziellen Ikone Brasiliens. Das Zusammenkommen von Menschen unterschiedlicher Hautfarben und Schichten im Karneval wurde zur ideologischen Bestätigung des nationalen Gründungsmythos, wonach Brasilien eine ausgeglichene Mischung mehrerer Kulturen und Ethnien sei.

Der Karneval als kulturelle Form scheint jedoch eine nonkonformistische Dimension zu enthalten, die über politische Instrumentalisierungsversuche hinausgeht. In Salvador vermehren sich seit den 1970er Jahren die „Afro-Blöcke“, die mit ihrer Besinnung auf antirassistische Errungenschaften nicht die nationale Kultur, sondern ihre Einbindung in die afrikanische Diaspora zelebrieren. In Städten wie Olinda verschmilzt der Karneval mit lokalen Traditionen und stiftet damit eine regionale Identität. Die Gründe, warum man in Brasilien so gerne Karneval feiert, ändern sich also regional und historisch, doch sie sind nachvollziehbar. Anders die Motivation der Menschen, die fast pausenlos mehrere Tage bis zur Erschöpfung durchtanzen.