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Fremde Blicke auf das Reich der Nazis

FU-Literaturwissenschaftler sammelt Reiseberichte ausländischer Autoren

„Die Begeisterung der Leute war ansteckend, und ich erwiderte das ,Heil Hitler!‘ so energisch wie ein Nazi“, schrieb die Tochter des amerikanischen Botschafters in Deutschland, Martha Dodd, die ihren Vater 1933, als Vierundzwanzigjährige, auf seiner schwierigen Mission begleitete. Das Dritte Reich, ein Reiseland? „Die Vorstellung, dass in den Dreißigern und Vierzigern Touristen ins Dritte Reich reisten, mag heute ziemlich abwegig erscheinen. Vielleicht wurde aus diesem Grund die Reiseliteratur über Nazi-Deutschland lange Zeit übersehen“, erzählt der Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich von der Freien Universität. „Dabei kamen zwischen 1933 und 1945 zahlreiche internationale Besucher nach Berlin und in viele andere Orte im ganzen Land.“ Sie berichteten von ihren Erfahrungen, indem sie literarisch interessante und historisch aufschlussreiche Texte verfassten.

Die Liste der Zeitzeugen ist eindrucksvoll: Zu den ausländischen Besuchern zählen bedeutende Schriftsteller wie Samuel Beckett, Jean Genet, Max Frisch, Virginia Woolf oder Albert Camus ebenso wie weniger bekannte Journalisten, Diplomaten, Studenten oder Privatleute, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen in Deutschland aufhielten.

Oliver Lubrich, der jüngst mit Ottmar Ette Alexander von Humboldts Lebenswerk „Kosmos“ und „Ansichten der Kordilleren“ neu ediert hat, forscht seit einigen Jahren zu diesem Thema. Er hat eine spannende und verblüffend originelle Auswahl von Texten zusammengestellt, die in vielen Fällen jetzt zum ersten Mal in deutscher Sprache erschienen sind, teilweise sogar zum ersten Mal überhaupt: „Reisen ins Reich 1933-1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland“.

Bei den Zeugnissen handelt es sich um zeitgenössische Aufzeichnungen, nicht um nachträgliche Rückblicke. Die bisher kaum genutzten Quellen zeichnen ein höchst widersprüchliches Bild. Im Vordergrund der Berichte steht nicht die politische Analyse, sondern die unmittelbare Alltagserfahrung. Waren manche Deutschland-Besucher nur am Anfang von der Dynamik des „Dritten Reiches“ fasziniert, blieben andere bis zum Ende Sympathisanten des Regimes. Wiederum andere schildern eindrucksvoll, wie sie allmählich desillusioniert wurden.

Dagegen legten die kühleren Köpfe von Beginn an eine Hellsicht an den Tag, die beeindruckend ist. So sah zum Beispiel der schwedische Dichter Gunnar Ekelöf schon kurz nach der Machtergreifung die Katastrophe voraus, und auch Martha Dodd kam bereits 1938 zu dem Schluss, dass die Verfolgung der Juden in einer planmäßigen Vernichtungspolitik gipfeln würde.

„Die Berichte dokumentieren, wie ausländische Besucher auf das nationalsozialistische Deutschland reagierten“, sagt der Herausgeber. „Sie zeigen, wodurch sich einige von ihnen blenden und faszinieren ließen, was andere verunsicherte und was viele abstoßend fanden.“

Ilka Seer