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Forschung am KGB vorbei

Der Slawist Georg Witte zog nach Westen, um die Literatur des Ostens zu erforschen

Hüttenweg neun, Zimmer zehn. Hier ist die neue Wirkungsstätte von Georg Witte. Nach zehn Jahren an der Humboldt-Universität Berlin ist er gen Westen gezogen, um von Dahlem aus den Osten in Gestalt der slawischen Kulturen und Literaturen insbesondere Polens und Russlands zu erforschen. „So schön ist es hier noch nicht“, entschuldigt er sich beim Eintreten, denn das Zimmer ist bis auf einen Schreibtisch und das Telefon praktisch leer. Nur am Boden stapeln sich reihenweise Bücher russischer Originalliteratur. Tschechow, Puschkin, Dostojewski und Namen, die nur echte Liebhaber der russischen Literatur kennen. „Die hat uns eine ehemalige Russisch-Lektorin vermacht“, freut sich der Wissenschaftler, Übersetzer und Kunstliebhaber über die unerwartete Gabe. Und hat nun ein Problem, denn gleich zwei FU-Institute können die literarischen Schätze gut gebrauchen, das Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und das Osteuropa-Institut. An beiden lehrt Georg Witte ab diesem Wintersemester. Der Slawist, ein Diener zweier Herren? „Als allererstes verstehe ich mich als Literaturwissenschaftler, dann als Kulturwissenschaftler“, erklärt der 52-Jährige. Die – im Gegensatz zur HU – dezidiert vergleichende Ausrichtung seiner neuen Stelle sei es, die ihn an die FU geführt habe, sagt er und macht klar, dass er sich unbedingt auch als Kulturvermittler sieht.

Da passt es gut, dass der passionierte Russlandreisende, der zudem mit einer gebürtigen Moskauerin verheiratet ist, am Osteuropa-Institut für Kulturwissenschaften verantwortlich ist. Ein besonderer Reiz an diesem, seinem zweiten Standbein, bekennt er, sei es nun über sein Spezialgebiet hinaus „Literatur im Konzert anderer Kunstformen und Medien zu betrachten“. Er verschweigt, welche reichen Erfahrungen er dazu in seinen zurückliegenden Forschungen bereits gesammelt hat, zum Beispiel in Form von Hör-Anthologien und Videodokumentationen russischer Poesie sowie Film- und Aktionskunst. Denn der Literaturwissenschaftler besteht nicht auf der Schriftform für Literatur, was nicht zuletzt seinem – zumindest in den 1980er Jahren – im wahrsten Sinne des Wortes oft flüchtigen Forschungsgegenstand geschuldet sein dürfte: der inoffiziellen russischen Literatur und Kunst in der spätsowjetischen Periode. Drohte den Autoren die Entdeckung, zerstörten sie die Dokumente, die sie vorlasen; sie verließen sich nicht darauf, ihre Gedanken auf einem so kompromittierenden Medium wie Papier zu verbreiten. Während seines einjährigen Aufenthaltes an der Moskauer Staatsuniversität 1984/85 kam der junge DAAD-Stipendiat Witte in Kontakt mit dieser verbotenen, gleichwohl sehr lebendigen Szene des Samizdat (übersetzt: „Selbstverlag“), dem literarischen und künstlerischen Underground in der Sowjetunion. Lyrik, Prosa, Belletristik und insbesondere die politische Satire der inoffiziellen Autoren erfreuten sich abseits des Zensurapparates großer Beliebtheit. Geheime Kopien gingen in Kleinstauflagen von Hand zu Hand. In informellen Lesezirkeln gestalteten die Intelligencija und andere Freigeister in einem losen Netzwerk lesend und schreibend den ideologischen und literarischen Freiraum, den der Staat ihnen verweigerte. Die Samizdat-Bewegung war der Nährboden für die bürgerliche Opposition. „Wir haben schon vor Gorbatschow erkannt, dass sich in seinem Land wahnsinnig viel bewegt, dass das Bild einer monolithischen Kultur überhaupt nicht stimmt“, erklärt Witte seine damalige Faszination für das Land hinter dem Eisernen Vorhang.

„Das war der Kick, das war mein wissenschaftliches Erweckungserlebnis“, erinnert sich der C 4-Professor an seine abenteuerliche Zeit als westlicher Doktorand im kommunistischen Russland. Wittes Interesse fiel auch dem Geheimdienst KGB auf, der den Doktoranden ins Visier nahm. „Natürlich wussten bestimmte Organe, welche Leute intensiven Kontakt zur Szene hatten und auch, wer Material dazu sammelte. Man wurde auch beschattet und teilweise bedroht“, so Witte. Abgehalten hat ihn das nicht.

Heute, zwanzig Jahre nach Wittes ersten Szenekontakten, bildet die Archivierung und multimediale Edierung der Samizdat-Literatur einen seiner Forschungsschwerpunkte. An der FU will er in den kommenden Jahren ein digitales Samizdat-Archiv aufbauen, um so diejenigen literarischen und politischen Zeitzeugnisse zugänglich zu machen, die heute wie ihre emigrierten Schöpfer oder Erben über die halbe Welt verteilt sind. Der Professor träumt vom „reisenden Recherchieren mit dem Scanner im Koffer“. Sein Forscherdrang strotzt vor Energie: „Es gibt unendlich wertvolle Materialien, aber 80 Prozent der Bestände sind im Besitz von Privatsammlern und damit der Forschung bisher nicht zugänglich.“

Literatur ist nicht nur Inhalt, es ist zugleich Materie. „Lesen“, mahnt Witte, „ist Sehen“. Ihn interessiert das visuelle Phänomen, das alles literarische Schaffen erst möglich macht – die Schrift. Das betrifft die Handschriftexperimente der futuristischen Avantgarde und die Typographie der Konstruktivisten nicht minder wie die Schriftbildlichkeit im Barock – ein Themengebiet, zu dem an seinem Lehrstuhl geforscht wird und das den agilen Forscher auch in Zukunft beschäftigt. Sein historisches Interesse an diesem Thema erwachte, als er sich in seiner Habilitationsschrift mit den Autobiographien russischer Schriftsteller des 18. Jahrhunderts beschäftigte. „Die das geschrieben haben, die haben sich praktisch beim Schreiben selbst zugesehen, und mehr als das – sie haben sich erst als Schreibende in ihre Rollen hinein fantasiert.“ Von hier schlägt der Professor wieder den Bogen zu den anderen Künsten. „Wir haben es mit Artefakten zu tun, und das ist ein generelles Problem der Moderne: mit ihrer eigenen Dingversessenheit fertig zu werden.“ Eben dieses Problem ist es, das Georg Witte im Rahmen des FU-Sonderforschungsbereichs „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ ergründet.

Bei aller Forschung wird sich der Wissenschaftler Witte sehr intensiv der Lehre und auch dem Kulturaustausch widmen. „Berlin ist ideal dafür“, schwärmt er. Seine Studenten werden vom breit gefächerten Interesse des Professors profitieren. In seiner Vorlesung über „Totalitäre Ästhetik in der Stalinära“ fragt er nicht nur nach den sozialen Trägern dieses repressiven Systems, sondern auch nach den ästhetisch-künstlerischen Methoden, mit denen seine Führer die Massen faszinierten. Manchmal muss sich der Slawist aber auch Seminarthemen erst selbst erschließen. „Das ist befriedigend, denn man lernt noch so viel dabei“, sagt der Mann der aus einer Arztfamilie im westfälischen Arnsberg stammt. Dem „Schreckensbild des Professors, der über sein eigenes Forschungsgebiet hinaus nichts weiß“, so Witte, wolle er auf keinen Fall entsprechen. In einer energischen Bewegung landet seine Hand auf dem Tisch. Dabei fällt sein Blick auf die Zeitung, die vor ihm liegt. Der Martin-Gropius-Bau wirbt für „Licht und Farbe in der Russischen Avantgarde. Eine Ausstellung“. Er greift zum Stift, notiert das Datum: „Da muss ich hin.“

Von Anke Assig