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Erzählungen eines Lebens

Annette Gerstenberg, Professorin für Französische und Italienische Sprachwissenschaft, untersucht die Sprache im höheren Lebensalter.

14.04.2016

Erinnerungen teilen: Um zu erforschen, wie sich Sprache im Laufe des Lebens verändert, führte die Sprachwissenschaftlerin Annette Gerstenberg viele Interviews. Das Foto zeigt eine der Teilnehmerinnen der Studie.

Erinnerungen teilen: Um zu erforschen, wie sich Sprache im Laufe des Lebens verändert, führte die Sprachwissenschaftlerin Annette Gerstenberg viele Interviews. Das Foto zeigt eine der Teilnehmerinnen der Studie.
Bildquelle: Annette Gerstenberg

Vielleicht hat das Praktikum in einem Altenheim in Florenz, das Annette Gerstenberg nach dem Abitur absolvierte, ihr Interesse an der Sprache der Älteren geweckt. In jedem Fall aber war es die Wissenslücke, die in diesem Bereich existierte. "Vor allem in der Romanistik war die Zahl der Forschungsarbeiten zu diesem Thema sehr übersichtlich", sagt die Sprachwissenschaftlerin für Italienisch und Französisch.

"Mir war es bei meiner Habilitation wichtig, auf einem Gebiet zu arbeiten, das noch nicht gut erforscht ist." In der Fachliteratur sah sie sich vor allem mit der sogenannten Defizithypothese konfrontiert, wenn es um die Sprache der Älteren ging: "Die Sprachentwicklung wurde im Verlauf eines Menschenlebens wie ein umgedrehtes U beschrieben, mit ihrem Höhepunkt zur Mitte des Lebens und einem Verfall der Sprache in den älteren Lebensjahren."

Annette Gerstenberg ging jedoch nicht davon aus, dass Sprache im Alter vor allem pathologische Prozesse zeigt. "Den häufig zitierten Begriff der ‘Alterssprache’ verwende ich nicht", sagt die 42-Jährige. Nach ihrer Erfahrung gibt es keine typische Sprache der Alten, denn jede Generation führe andere typische Sprachmuster mit sich, die sich zudem an den Sprachgebrauch in der Gesellschaft anpassten. Und über den Lebenslauf präge sich eine hohe Individualität aus.

2005 begann Annette Gerstenberg mit dem empirischen Teil ihrer Habilitationsarbeit. Sie reiste für mehrere Wochen nach Orléans und führte Gespräche mit 56 Älteren; die meisten waren zwischen 70 und 94 Jahre alt. Für Orléans gab es gute Gründe: Zum einen wird dort wie in dem 130 Kilometer entfernten Paris, Standardfranzösisch gesprochen – Dialekte konnten also nur wenig ablenken.

Zum anderen konnte Annette Gerstenberg auf einem sogenannten linguistischen Korpus aufbauen: Englische Französischlehrer hatten 1968 begonnen, Sprachaufnahmen aller Generationen in der Region zu sammeln und zu dokumentieren. Mit dem sogenannten Orléans- Korpus begann auch die Kooperation der dortigen Arbeitsgruppe von Sprachwissenschaftlern, deren assoziiertes Mitglied Annette Gerstenberg heute ist.

Gemeinsam mit Catherine Bolly von der Universität zu Köln hat sie außerdem das Netzwerk Corpora for Language and Aging Research (CLARe) gegründet, das Experten der korpusgestützten Sprachforschung zum höheren Lebensalter aus der ganzen Welt zusammenbringt.

Wer Annette Gerstenberg erlebt, kann sich gut vorstellen, dass Menschen sich ihr gegenüber schnell öffnen und dass sie eine gute Zuhörerin ist. Auch wenn ihre Heimatregion, das Rheinland, sich in ihrer Sprache nicht verrät, zeigt die Wissenschaftlerin doch typisch rheinisches Gesprächsverhalten, wie sie selbst sagt: "Dazu zählt, dass man als geborene Düsseldorferin im Aufzug auch dann redet, wenn man nicht reden muss."

Gesprächspartner für ihre Forschung in Frankreich fand sie über Freunde, in Altenheimen oder sie sprach Menschen auf der Straße an.

Für jedes Interview wollte Annette Gerstenberg eine möglichst ähnliche Situation schaffen. Die Teilnehmer sollten ihren eigenen Redefluss entwickeln; deshalb setzte die Sprachwissenschaftlerin auf die Strategie des "aktiven Zuhörens". In jeweils etwa 45 Minuten erzählten die Älteren aus ihrem Leben. Sie wussten, dass es um ein Universitätsprojekt ging und sie Teil eines Projektes zur mündlich überlieferten Geschichte waren.

2011 veröffentlichte Annette Gerstenberg ihre Habilitation unter dem Titel "Generation und Sprachprofile im höheren Lebensalter" – mit den Ergebnissen der Untersuchung von Orléans. Dabei spielte der Begriff der Generation eine zentrale Rolle, viele der Befragten maßen der Schulbildung hohen Wert bei: "Kinder der Dritten Republik, also der Zeit zwischen 1870 und 1940 in Frankreich, sehen die Schulbildung als das Mittel für den sozialen Aufstieg an", sagt die Wissenschaftlerin, "Schulbildung ist für sie Sprachbildung; viele der Gesprächspartner achteten daher sehr auf ihre Worte und Sätze."

2012 reiste die Sprachwissenschaftlerin noch einmal nach Orléans, um ihre Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner von damals zu treffen. 34 von 56 konnte sie wieder ausfindig machen. Die Anordnung war die gleiche, bei der Auswertung konzentrierte sich Annette Gerstenberg auf kleine Einheiten aus den sieben Jahre zurückliegenden Interviews, auf Anekdoten und bestimmte Erinnerungen, die meist spontan in gleicher Weise erzählt wurden. In einigen Fällen provozierte Gerstenberg bewusst, dass die Gesprächspartner ihre Geschichten wiederholten und verglich beide Versionen.

Welche Strategien wurden verwendet, um Geschichten zu erzählen? Wie veränderten sich diese beim späteren Erzählen?

Die Erzähleinheiten waren nun kürzer, die Pausen länger geworden. "Sprechen ist anstrengend", konstatiert Annette Gerstenberg, "das zeigt sich an solchen Veränderungen." Dazu gehöre auch, dass die Älteren im Jahr 2012 weniger Füllwörter verwendeten, die zusätzliche Energie kosten.

Der Anteil sehr häufig verwendeter Wörter war insgesamt zurückgegangen. Bei Erzählkernen – den wichtigsten Informationen zu einer Geschichte – gebe es eine erstaunlich hohe Stabilität, sagt sie, etwa in der Wiedergabe wörtlicher Rede.

In einem weiteren Schritt führte die Wissenschaftlerin ein Experiment des sogenannten Narrative Priming durch: Sie konfrontierte die Studentinnen und Studenten, die sie während einer Gastdozentur an der Universität Orléans unterrichtete, mit den Geschichten der Älteren.

Dann brachte sie die Jüngeren zum Erzählen, indem sie nach deren eigenen Anekdoten aus der Kindheit fragte. Anschließend verglich die Sprachwissenschaftlerin die Erzählweisen und Erzählstrategien der beiden Gruppen miteinander.

"Bei den Älteren war die Erfahrung im mündlichen Erzählen deutlich zu erkennen", sagt Gerstenberg. "Ihre Erzählungen waren stärker gegliedert, sie waren wie schriftliche Texte komponiert, mit einer Einleitung, einem Höhepunkt und einer Bewertung, während die Jüngeren knapper erzählten und auf strukturierende Elemente eher verzichteten."

Im vergangenen Jahr begann Gerstenberg mit einer dritten Untersuchungsserie, an der noch einmal zwei Dutzend der ursprünglich Auskunftswilligen teilnahmen, ergänzt durch weitere Freiwillige. Diese jüngste Erhebung findet mit einem inhaltlichen Schwerpunkt auf Spracheinstellungen statt: was denken die älteren Sprecherinnen und Sprecher über die so genannte Jugendsprache? Ist es ihnen wichtig, "korrekt" zu sprechen? Diese Erhebung wird durch ein Modul der Persönlichkeitspsychologie ergänzt.

Im Jahr 2013 wurde Annette Gerstenberg als Professorin für Sprachwissenschaft an das Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin berufen. Kann sie noch unbefangen Gespräche führen, wenn sie abends ausgeht – oder achtet die Wissenschaftlerin stets auf Sprechmuster?

"Ja, darauf achte ich schon", sagt Anette Gerstenberg. "Ich möchte das auch gar nicht anders haben. Dafür interessiert mich Sprache einfach zu sehr. Sie hat mich immer schon fasziniert – in jeder Form."