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„Den Opfern ihre Geschichte zurückgeben“

Vier Bibliotheken entwickeln eine gemeinsame Datenbank für NS-Raub- und Beutegut

14.04.2016

Gewaltige Aufgabe: Ringo Narewski leitet an der Freien Universität die Stabsstelle NS-Raub- und Beutegut. Stempel, Exlibris, Autogramme oder Widmungen gehören zu den vielen tausend Spuren zu den oft verworrenen Wegen geraubter Bücher.

Gewaltige Aufgabe: Ringo Narewski leitet an der Freien Universität die Stabsstelle NS-Raub- und Beutegut. Stempel, Exlibris, Autogramme oder Widmungen gehören zu den vielen tausend Spuren zu den oft verworrenen Wegen geraubter Bücher.
Bildquelle: Jenny Jörgensen

Als die Jüdin Johanna Arons, die Witwe des 1919 verstorbenen Physikers und sozialdemokratischen Politikers Leo Arons, 1938 in ihrer Wohnung in Berlin-Schöneberg Selbstmord beging, hatten die Nationalsozialisten bereits das Vermögen der Familie beschlagnahmt. Darunter war vermutlich auch die umfangreiche Familienbibliothek, in der die Arons über Jahrzehnte schöne Literatur und andere Werke gesammelt hatten. Johanna Arons’ Sohn Hans Albert Arons konnte 1939 mit seiner Ehefrau und seinen Söhnen nach Panama fliehen, von wo aus er 1941 in die USA ging. Nach seinem Tod kehrten seine Witwe und die Söhne in den 1950er Jahren nach Berlin zurück. Die Bibliothek der Familie blieb verschwunden.

2014 entdeckten Mitarbeiter der neuen Campusbibliothek an der Freien Universität in den Buchbeständen mehrere Bände, die einen Adress-Stempel „Dr. Leo Arons“ und eine Unterschrift „Hans Albert Arons“ trugen. Über welche Wege sie dorthin gelangt waren, ist nicht bekannt. Die 1948 gegründete Freie Universität Berlin habe nach dem Krieg viele Bücher von Antiquariaten erworben oder von Angehörigen des US-Militärs und Berliner Bürgern geschenkt bekommen, sagt Ringo Narewski, Leiter der Stabsstelle NS-Raubund Beutegut der Universitätsbibliothek. „Auf verdächtige Vorbesitzmerkmale hat damals niemand geachtet.“

Die Stabsstelle recherchierte die Identität und Geschichte der ursprünglichen Besitzer und ihrer Erben über zahlreiche öffentlich zugängliche Quellen im Internet. In einem Artikel in der Tageszeitung taz von 2003 fanden die Mitarbeiter schließlich den entscheidenden Hinweis: einen Bericht über die Lebenserinnerungen des Enkelsohnes Klaus Arons. Über die Verlegerin des Buches gelang es der Universitätsbibliothek, Klaus Arons zu kontaktieren und ihm die Bücher zu übergeben.

Die Nationalsozialisten raubten den von ihnen verfolgten Menschen unzählige Kulturgüter; sie entwendeten sie auch aus Einrichtungen oder erbeuteten sie in den Ländern, die sie überfielen. Die am häufigsten gestohlenen Gegenstände waren Bücher. Bis heute sind nur wenige von ihnen an ihre rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben worden. Viele stehen weiterhin unerkannt in Bibliotheken in ganz Deutschland. Denn die Bücher und ihre heutigen Eigentümer zu finden, ist eine aufwendige und detaillierte Detektivarbeit, die einzelne Institutionen kaum angemessen leisten können.

Deshalb haben nun vier Bibliotheken die gemeinsame Datenbank „Looted Cultural Assets“ entwickelt: die Universitätsbibliotheken der Freien Universität Berlin und der Universität Potsdam, die Bibliothek der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und die Zentral- und Landesbibliothek Berlin. Das Besondere: Die Datenbank „Looted Cultural Assets“ bündelt alle bislang bearbeiteten Fälle aus den vier Bibliotheken, hält ihren aktuellen Recherchestatus und jede zu ihnen gefundene Information fest – unabhängig davon, ob sie sich tatsächlich als NS-Raub herausstellen oder nicht. So lassen sich Buchdiebstähle auch auf Enteignungen in der DDR und Beschlagnahmungen durch die Rote Armee zurückführen. Oft stellt sich aber auch heraus, dass ein Buch nicht geraubt oder erbeutet worden ist. Diese Erkenntnisse sind ebenso nützlich, damit dasselbe Wissen nicht immer wieder neu zusammengetragen werden muss.

Eben darin unterscheidet sich die neue Datenbank von der bekannteren „Lost Art“-Datenbank des in Magdeburg angesiedelten Deutschen Zentrums Kulturgutverluste. Letztere hält nur Informationen über die Kunstwerke und Gegenstände fest, die tatsächlich als NS-Raubund Beutegüter identifiziert werden konnten. „Um unser mühevoll gesammeltes Wissen zu sichern, ist die Datenbank transparent. Sie ist offen für die Mitarbeit anderer öffentlicher Institutionen und in Teilbereichen auch für interessierte Laien“, sagt Narewski.

In dem Archiv verbergen sich viele Tausend Spuren zu den oft verworrenen Wegen, die die geraubten Bücher genommen haben. In mühevoller Kleinstarbeit haben Bibliotheksmitarbeiter Bücher auf Stempel, Exlibris, Autogramme oder Widmungen untersucht und recherchiert, ob diese Vorbesitzermerkmale (Provenienzen) darauf schließen lassen, dass es sich um Raub- oder Beutegut handelt, das das NS-Regime zwischen 1933 und 1945 entwendete oder erbeutete.

Dafür greifen die beteiligten Bibliotheken auf eine ständig wachsende Linksammlung zurück, die sie zu Suchmaschinen, Archiven weltweit, Beschaffungslisten der Nationalsozialisten und der Roten Armee, zu Passagierlisten von Schiffen, alten Stadtplänen, Adressverzeichnissen, Zeitungsinseraten und vielen anderen Quellen führt. „Manchmal sind es Zufallsfunde, die uns weiterbringen“, sagt Narewski. Die Aufgabe ist gewaltig. „Insgesamt müssten wir nach einer ersten Schätzung etwa eine der rund acht Millionen Bücher an der Freien Universität Berlin untersuchen, wenn wir alle verdächtigen Bände finden wollten“, sagt Ringo Narewski. Seine Motivation, die schier endlose Arbeit voranzubringen, ist vor allem eine moralische: „Wir wollen den Opfern ihre Geschichte und ihren Namen zurückgeben.“