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"Auch der dreckige Sieg kann schön sein!"

Ein Gespräch mit dem Rechtswissenschaftler Helmut Grothe von der Freien Universität über Gerechtigkeit im Fußball

12.06.2014

Helmut Grothe, Jahrgang 1960, ist Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privat- und Verfahrensrecht sowie Rechtsvergleichung an der Freien Universität. Er ist Mitglied des HSV.

Helmut Grothe, Jahrgang 1960, ist Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privat- und Verfahrensrecht sowie Rechtsvergleichung an der Freien Universität. Er ist Mitglied des HSV.
Bildquelle: Privat

Beim Fußball kämpfen 22 Menschen um einen Ball. Aber nicht immer geht es nach allen Regeln des Sports. Helmut Grothe ist seit 1998 Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privat- und Verfahrensrecht sowie Rechtsvergleichung an der Freien Universität Berlin und befasst sich seit mehreren Jahren auch mit Sportrecht. Der Fußballfan ist Mitglied des Bundesligisten Hamburger SV. Carsten Wette sprach mit ihm über Phantom-Tore, Fouls und Fehlentscheidungen.

Professor Grothe, Sie sind Jurist und Fußballfan – mit welcher Hälfte von Ihnen können wir ernsthaft über Gerechtigkeit im Fußball reden?

Helmut Grothe: (lacht) Naja, als Jurist kann ich nicht sehr viel zu Gerechtigkeit im Fußball beisteuern, es ist nun einmal ein Spiel. Und für mich als Fan ist natürlich immer das gerecht, was meiner Mannschaft nutzt.

Welche Schiedsrichterentscheidung aus der jüngeren Vergangenheit bereitet Ihnen als Jurist Unwohlsein?

Die Entscheidung, das Phantomtor zu werten, bei dem der Spieler Stefan Kießling im Oktober für Leverkusen von außen durch ein Loch im Netz ins Hoffenheimer Tor traf. Vor ein paar Jahren schoss ein Bayern-Spieler neben das Tor, auch dieses Tor wurde zunächst anerkannt. Doch es gab Protest, und dieses Spiel wurde wiederholt. Bei Kießling hat man diesen Weg nicht beschritten. Das hat mir ein bisschen Bauchschmerzen verursacht, gerade wegen der Vergleichbarkeit der Fälle.

Beurteilen Sie Fehlentscheidungen in den nationalen Ligen und bei einer Weltmeisterschaft unterschiedlich?

Im Liga-Fußball gibt es viele Spiele, und vielleicht gleichen sich Fehlentscheidungen im Verlauf einer Saison wieder aus. Doch bei großen internationalen Turnieren kann eine einzige Entscheidung fatal sein.

Welche größten Ungerechtigkeiten haben Sie in Erinnerung?

Natürlich das "Wembley-Tor" von Geoff Hurst 1966 im WM-Finale England gegen Deutschland, als der Ball im Wembley-Stadion von der Latte auf den Boden prallte und dies als Tor für England gewertet wurde. Oder nehmen Sie das Tor durch die "Hand Gottes", als der Argentinier Diego Maradona bei der WM 1986 gegen England für einen Kopfball nicht hoch genug gesprungen war. Man muss auch das aberkannte 2:2 von Frank Lampard bei der letzten Weltemeisterschaft im Spiel England gegen Deutschland hinzuzählen ...

Schiedsrichter können nicht alles sehen.

Zumindest, wenn es um Tore geht, werden die Dinge jetzt in Brasilien ein bisschen versachlicht. Bei dieser WM wird es keine umstrittenen Tor-oder-nicht-Tor-Szenen mehr geben. Durch das Torlinien-System GoalControl kann der Schiedsrichter mithilfe von Kameras und Computern zweifelsfrei entscheiden …

... wenn es funktioniert …

… man hat sich diese Technik jahrelang angeschaut, und es gab im vergangenen Jahr Probeläufe beim Confederations Cup. Warum sollte man das jetzt nicht machen? Schade, dass die Bundesliga die Technik nicht einführt. Nur bei den Zweitligavereinen und den kleineren Ligen habe ich Verständnis für die Ablehnung, denn das kostet viel zu viel Geld und kann auf den Dorfplätzen nicht bewältigt werden. Aber bei den Millionen, die in der 1. Bundesliga umgesetzt werden, fielen die Kosten für die Vereine kaum ins Gewicht. Vielleicht würden sich Fans weniger häufig prügeln, wenn Tor-Entscheidungen immer richtig getroffen würden.

Wird diese WM also gerechter?

Jein. Ein Schiedsrichter kann das Spiel auch mit einer zu Unrecht gezeigten roten Karte entscheiden. Das wird keine Technik verhindern können.

Wie gerecht kann es im Fußball überhaupt zugehen?

Der Ball ist rund, das Spiel hat 90 Minuten – es gibt ein paar Parameter, die man im Kern, abgesehen etwa von der Nachspielzeit, nicht beeinflussen kann. Auch bei einem Tor stellt sich eigentlich nicht die Frage, ob drin oder nicht, sondern es geht lediglich um den Beweis – auch das ist also eigentlich keine Frage von Gerechtigkeit. Ein Gerechtigkeitsproblem haben wir namentlich im Hinblick auf die Wertungsspielräume des Schiedsrichters, etwa wann er auf Freistoß entscheidet. Hat ein Spieler für das Vergehen zusätzlich eine Karte verdient? Welche? War das Foul elfmeterwürdig? All das kann man nicht mathematisch-naturwisssenschaftlich errechnen, das liegt – trotz fester Regeln – im Tatbestands- oder Rechtsfolgeermessen des Schiedsrichters.

Sind Entscheidungen des Schiedsrichters in Stein gemeißelt?

Wenn ein Schiedsrichter ein bestimmtes Verhalten auf dem Platz nicht gesehen hat, kann ein Spieler auch im Nachhinein noch gesperrt werden. Hat der Schiedsrichter eine Szene aber gesehen und falsch gewürdigt, dann ist es eine Tatsachenentscheidung, die unumkehrbar ist - ob sie richtig war oder falsch.

Ist es für Sie als Jurist auszuhalten, wenn der Spieler mit der Nummer 6 vom Platz gestellt wird, weil er sich gerade bückt und der Schiedsrichter ihn für den mit Gelb verwarnten Spieler mit der 9 hält – wie bei einer WM vor ein paar Jahren?

Es bleibt ein Spiel, eine Unterhaltungsveranstaltung, und die hat Grenzen. Sonst wäre es nicht auszuhalten. Wahr ist aber auch, dass die WM nicht mehr nur ein rein sportliches Turnier ist, sondern eine Multimillionen-Wirtschaftsveranstaltung. Deshalb können Fehlentscheidungen für die Spieler negative Konsequenzen haben und deren Marktwert verändern. Doch das wissen alle, die teilnehmen.

Spielt es eine Rolle, dass der Schiedsrichter seine Autorität auf dem Platz bewahren muss?

Für Zweifel hat er kaum Zeit; er kann sich höchstens kurz mit seinen Assistenten beraten. Elfmeter? Gelb oder Rot? Der Schiedsrichter entscheidet sofort. Das Spiel hat nur 90 Minuten plus Nachspielzeit und eventuell Verlängerung - es findet auf dem Platz statt und nicht vor Gericht.

Macht gerade diese leichte Unberechenbarkeit den Reiz des Fußballs aus, und nimmt die Torlinientechnik dem Spiel die Würze?

Das ist ein beliebtes Stammtisch-Argument, doch ich stimme ihm nicht zu. Auch eine Sportart wie Eishockey ist spannend, und bei dieser sind Videobeweise und Unterbrechungen an der Tagesordnung.

Sinkt die Fähigkeit, objektiv und gerechtigkeitsliebend zu sein mit der Intensität des Fan-Seins?

Ja. Der Fan ist parteilich, notfalls ist es ihm nicht so wichtig, ob etwas gerecht war. Auch der dreckige Sieg kann schön sein.

Können Sie als Jurist den Begriff "ausgleichende Gerechtigkeit" gelten lassen, etwa bei einem als Treffer gewerteten Abseitstor, das quasi einen Elfmeter kompensiert, der demselben Team zu Unrecht verweigert worden ist?

Das hat mit Recht nichts zu tun, es ist zweimal Unrecht, das sich lediglich im gefühlten Ergebnis aufwiegt. Für Fans ist dann die Welt in Ordnung, vielleicht wird trotzdem dem zweiten Tor nachgetrauert, um das er oder sie sich betrogen sieht.

Wie gerecht kann es – losgelöst von der Regelkunde – im Fußball zugehen, wenn eine Mannschaft mit nur 30 Prozent Ballbesitz und einer einzigen Torchance als Sieger vom Platz geht?

Wer mehr Tore geschossen hat, gewinnt, der Rest spielt keine Rolle. Auch Effizienz kann schön sein. Es gibt im Fußball keine A-Note für die technische Ausführung und ebenso wenig eine B-Note für den künstlerischen Ausdruck.

Hat Ihr Verein, der HSV, deshalb in dieser Saison Glück gehabt und ist nicht abgestiegen?

Der Ausdruck Glück ist dabei noch untertrieben. Nie hat eine Erstligamannschaft mit weniger Punkten und mehr Gegentoren die Klasse gehalten. Trotzdem habe ich mich nach dem Abpfiff des Relegations-Rückspiels gegen Fürth gefühlt, als hätte der HSV die deutsche Meisterschaft gewonnen.

Haben Sie Verständnis dafür, dass Torwart Manuel Neuer in dem WM-Spiel gegen England 2010 dem Schiedsrichter nicht gesagt hat, dass der Ball im deutschen Kasten war?

In gewisser Weise habe ich Verständnis, wenn Spieler unehrlich sind. Es hängt einfach zu viel von einer solchen Situation ab.

Haben Sie auch als Jurist Verständnis?

Gerade als Jurist – auch in einem Prozess muss man sich nicht selbst belasten. Bei einem Kick im Park würde ich das anders sehen.

Sind Fairness und Gerechtigkeit im Fußball Freunde oder Feinde?

Gerechtigkeit ist idealerweise Teil der Fairness.

Und wer wird Weltmeister?

Spanien gewinnt das Finale in der Verlängerung mit 2 zu 1 gegen Brasilien.