Springe direkt zu Inhalt

„Freiheit verlangt Disziplin“

26.09.2013

Gemeinsam mit dem palästinensischen Autor und Professor der Columbia-Universität, Edward Said, gründete Daniel Barenboim 1999 das „West-Eastern Divan“. Barenboim erhält in diesem Jahr den Freiheitspreis der Freien Universität.

Gemeinsam mit dem palästinensischen Autor und Professor der Columbia-Universität, Edward Said, gründete Daniel Barenboim 1999 das „West-Eastern Divan“. Barenboim erhält in diesem Jahr den Freiheitspreis der Freien Universität.
Bildquelle: Luis Castilla

Am 23. Oktober erhält Daniel Barenboim den diesjährigen Freiheitspreis der Freien Universität Berlin. Der Dirigent wird für sein „unermüdliches Engagement für Völkerverständigung, Versöhnung und Frieden“ ausgezeichnet

Israelische, palästinensische und arabische Musiker, Pult an Pult, in einem Orchester? Dass das funktionieren kann, zeigt das West-Eastern Divan Orchestra. Daniel Barenboim, 1942 als Sohn russisch- jüdischer Eltern in Argentinien geboren, hat das Orchesterprojekt 1999 gemeinsammit dempalästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said begründet. Ein Gespräch mit dem weltberühmten Dirigenten und Pianisten über das Verbindende der Musik, den einzig möglichen Weg zum Frieden im Nahen Osten und warum das West-Eastern Divan Orchestra ein Orchester im Exil ist.

Herr Barenboim, Freiheit und das Überwinden von Grenzen – das sind Themen, die sich durch Ihr Leben und Ihre Arbeit ziehen. In Berlin ist durch den Mauerfall auch eine Grenze überwunden worden. Ist das ein Grund,weshalb Sie hier Ihre Wahlheimat gefunden haben?

DANIEL BARENBOIM: Ohne Zweifel. Ich habe mich in Berlin immer wohlgefühlt. Viele, ganz gleich, ob Deutsche oder Ausländer, bevorzugen vielleicht noch immer Städte wie Hamburg oder München, weil sie sehr schön sind. Aber in Berlin merkt man: Hier passiert etwas, die Stadt ist voller Energie. Auch aus diesem Grund habe ich mich 1992 für Berlin entschieden. Nach dem Fall der Mauer war es eine außergewöhnliche Herausforderung, ein traditionsreiches Orchester wie die Staatskapelle und ein offenes Haus, die Staatsoper, zu leiten. Mit der ganzen Problematik, die diese Zwischenzeit der Nachwende damals mit sich brachte: nicht mehr Osten und noch nicht ganz Westen zu sein. Anfang der neunziger Jahre hatte man im ehemaligen Ost-Berlin das Gefühl, man wäre in Prag, Warschau oder Moskau.Und in West-Berlin kam man sich vor wie in London oder Washington.

Sie kannten Berlin vor der deutschen Vereinigung und sind kurz nach dem Mauerfall an die Staatsoper gekommen. Haben Sie die Ost-West-Grenze noch im Kopf?

BARENBOIM: Wir müssen wegkommen von dieser Ehemaligen-Geschichte. Wenn Sie einen Franzosen fragen, was typisch für Paris ist, wird er je nach seinem kulturellen Niveau sagen: der Louvre oder der Eiffelturm oder der Fußballverein Saint Germain. Wenn Sie einen Bayern fragen, dann nennt er das Oktoberfest, das Nationaltheater oder die Pinakothek in München. Wenn Sie aber einen Berliner fragen, was typisch für Berlin ist, kommt immer die Antwort: Also, im ehemaligen Westen das und das, im ehemaligen Osten das und das. Dagegen möchte ich kämpfen. Obwohl es keine physische Mauer mehr gibt, sind wir noch immer nicht eine Stadt. Wenn man 20 Jahre nach dem Fall der Mauer sagt, die Staatsoper muss renoviert werden, sie bezieht Interimsquartier im Schillertheater im Westen, ist das doch Unsinn.

Um das Überwinden von Grenzen ging es Ihnen auch 1999 bei der Gründung des West-Eastern Divan Orchestra. Was hat damals den Anstoß gegeben?

BARENBOIM: Es ging und geht nicht um das Überwinden von staatlichen Grenzen, denn es gibt keinen Staat Palästina. Wir haben hier einen Konflikt zwischen zwei Völkern, die – jedes für sich – zutiefst davon überzeugt sind, ein Recht auf das gleiche kleine Stückchen Land zu haben. Und vor allem darauf, es exklusiv für sich zu haben. Wir können aber die jeweils anderen nicht ausblenden, also ohne einander leben. Wir müssen entweder einen gemeinsamen Weg finden – in einem binationalen Staat – oder einen Weg nebeneinander: in zwei voneinander getrennten Staaten, die kooperieren. Rücken an Rücken geht es nicht. Darum ging es bei der Orchestergründung: die Menschen davon zu überzeugen, dass es für ihre Region keine militärische Lösung gibt und auch keine politische – nur eine menschliche. Für diese menschliche Lösung muss man die Menschen aufeinander neugierig machen, in ihnen die Neugier wecken, die anderen verstehen zu wollen.

Ist Musik eine Lösung? Kann die Musik diese mentalen Grenzen überwinden helfen?

BARENBOIM: Die Musik kann das nicht, das habe ich nie behauptet. Was die Musik schafft, ist, den Musikern zu zeigen, dass der andere am Nachbarpult eigentlich sehr ähnlich ist, dass er die gleichen Leidenschaften hat, die gleichen Freuden, die gleichen Schmerzen. So entsteht Verständnis füreinander. Wenn man zusammen musiziert, fühlt man das.

Das Orchester ist oft als Orchester für den Frieden beschrieben worden.

BARENBOIM: Das ist sehr schmeichelhaft, aber das stimmt natürlich nicht. Der Beweis ist, dass wir im Nahen Osten überhaupt nicht akzeptiert sind. Weder von den Israelis noch von den Arabern. Natürlich haben wir viele Bewunderer, aber die Menschen in den betreffenden Regierungen wollen davon nichts wissen. Das inzwischen fast historische Konzert in Ramallah im Westjordanland im Jahr 2005 ist in 23 Länder live ausgestrahlt worden – nur das israelische Fernsehen hatte nicht das geringste Interesse. Das war natürlich kein ökonomisches Problem, sondern ein politisches: Die Tatsache, dass 35 israelische Musiker unerlaubt über die Grenze in die Palästinensischen Autonomiegebiete im Westjordanland gereist sind, war der Grund. Aber auch die Palästinenser wollen nichts mehr von gemeinsamen Projekten hören. Sie sagen: Erst brauchen wir Gerechtigkeit, eine Heimat, einen Staat. Dann können wir über Kooperationen und gemeinsame Projekte sprechen. In ihren Augen zementiert das Orchester nur den Status Quo und ändert nichts an der politischen Situation.Wir sind ein Orchester im Exil.

Wird sich das irgendwann ändern? Wird das Orchester eine andere Rolle spielen?

BARENBOIM: Nicht, wenn die Situation bleibt, wie sie ist. Es gibt auf beiden Seiten zu viele Leute, die gegen eine solche Idee sind.

Sie machen trotzdem weiter.

BARENBOIM: Natürlich. Weil ich denke, dass es unbedingt notwendig ist. Das ist mein persönlicher Beitrag, meine persönliche Reaktion auf eine Situation, die aus meiner Sicht sehr tragisch ist. Es gibt junge Menschen, die in unserem Orchester mitmachen wollen, das ist doch das Schönste, was mir passieren kann. Und wenn die Arbeit anerkannt wird, wie jetzt von Ihrer Universität, ist das schon sehr, sehr schön.

Sie sind Friedensbotschafter der Vereinten Nationen – was ist Ihr Traum für die israelisch- palästinensische Region? Und wann kann er Wirklichkeit werden?

BARENBOIM: Das ist fast so schwer zu beantworten, wie wenn Sie mich fragen würden, wann der Berliner Flughafen öffnet… (lacht). Es bedarf tatsächlich noch einer großen inneren Arbeit. Und zwar mehr von israelischer Seite als von palästinensischer. Schließlich folgen die Palästinenser einem ganz normalen menschlichen Instinkt: Sie wollen frei sein, sie wollen einen Staat haben und über ihr Leben allein entscheiden. Aber ihr Land ist zum großen Teil besetzt. Die Israelis wiederum müssen begreifen, dass der jüdische Traum ein Traum ist – wenn auch vielleicht einer der schönsten Träume in der Geschichte: Ein Volk, das über Jahrhunderte über die ganze Welt verstreut war, meistens verfolgt wurde und das immer mit der Idee lebte „Nächstes Jahr in Jerusalem“, der rituellen Verabschiedung in der jüdischen Pesachliturgie. Dann kam es in das gelobte Land – aber das Land war nicht unbewohnt. Der Konflikt spielt also in verschiedenen Zeitsystemen: in der realen Zeit und in der mystischen. Wie soll man so etwas regeln? Darum darf die innere Arbeit für die Lösung eines solchen Konflikts nicht unterschätzt werden. Wie notwendig diese menschliche Arbeit ist, ist meines Erachtens noch nicht erkannt worden. Das gilt für beide Seiten.

Sie lehnen das Wort Toleranz ab – warum?

BARENBOIM: Toleranz heißt, etwas zu ertragen. Ich toleriere einen Menschen, obwohl er hässlich ist oder nicht intelligent, ich ertrage ihn. Schon Goethe hat das gesagt: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Was wir brauchen, ist Akzeptanz.

Das West-Eastern Divan Orchestra haben Sie mit ihrem Freund, dem Literaturwissenschaftler Edward Said von der Columbia University, gegründet. Was kann Wissenschaft, was können Universitäten für den Versöhnungsprozess leisten?

BARENBOIM: Wissenschaft heißt ratio, objektiv zu denken. Wissenschaft bringt einen dazu, sich mit den Dingen zu befassen, wie sie sind, und nicht, wie wir möchten, dass sie sind. Das kann nur die Wissenschaft leisten.

Sie haben zahlreiche Preise bekommen, nun werden Sie mit dem Freiheitspreis der Freien Universität ausgezeichnet – was bedeutet Ihnen dieser Preis?

BARENBOIM: Freiheit ist eine solch elementare menschliche Notwendigkeit, dass es eine besondere Ehre und Freude ist, einen Preis von einer Institution zu bekommen, die versucht, mit dem Konzept Freiheit zu arbeiten. Was bedeutet für Sie Freiheit? Ich habe das einmal in einem Artikel über Beethoven geschrieben: Freiheit ist nicht nur ein Geschenk, das man bekommt. Freiheit verlangt auch Disziplin. Freiheit legt die Verantwortung auf, selbst zu denken, verantwortlich für seine individuellen Taten und Entscheidungen zu sein. Man verwechselt Freiheit oder Demokratie heute oft mit Anarchie. Aber Freiheit bedeutet nicht, dass jeder machen kann, was er will. Freiheit verlangt eine große persönliche Verantwortung.