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Auf eine Coca Cola mit dem US-Geheimdienst

Hinter den Kulissen von John F. Kennedys Rede an der Freien Universität Berlin am 26. Juni 1963.

10.06.2013

Im Blitzlichtgewitter: Eine junge Frau wird von Kennedy begrüßt, im Vordergrund ein Polizist, rechts hinten Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt.

Im Blitzlichtgewitter: Eine junge Frau wird von Kennedy begrüßt, im Vordergrund ein Polizist, rechts hinten Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt.
Bildquelle: Peter Ostendorf

Kaum jemand hatte an diesem Nachmittag so viel Glück wie Peter Arndt. Der 22-Jährige war zwar noch nicht einmal ein halbes Jahr an der Freien Universität Berlin tätig, doch sein Beruf war am 26. Juni 1963 wie ein Sechser im Lotto. „Als Rohrleger bekam ich einen farbigen Anstecker. Damit durfte ich beim Kennedy-Besuch ohne Kontrollen überall hin“, sagt Arndt und schmunzelt. Arndt hatte geholfen, das imposante Bühnenpodest vor dem Henry-Ford-Bau zu errichten, eine Stahlrohr-Konstruktion mit ansteigenden Sitzrängen auf einer Fläche von 264 Quadratmetern. Dort nahm er kurz vor Kennedys Auftritt Platz – in Sichtweite zu den Professoren, die je nach Fakultät unterschiedlich farbige Talare trugen.

Schräg gegenüber saßen Bundeskanzler Konrad Adenauer, der Regierende Bürgermeister von Berlin Willy Brandt und drei der vier alliierten Stadtkommandanten – der Vertreter des sowjetischen Sektors glänzte durch Abwesenheit.

Nur 96 Tage zuvor, am 22. März, war bei Horst W. Hartwich, dem Leiter des Akademischen Außenamtes der Freien Universität, um 20.28 Uhr ein Telegramm aus New York wie eine Bombe eingeschlagen. Shepard Stone, Director of International Affairs at the Ford Foundation, regte darin an, US-Präsident Kennedy an die Freie Universität einzuladen.

Hartwich war wie elektrisiert, weil die Hochschule durch eine solche Geste den US-Bürgern für die „großen amerikanischen Hilfsleistungen“ bei der Gründung der Universität würde danken können, wie er dem Chef der Senatskanzlei, Dietrich Spangenberg, in einem vertraulichen Brief schrieb. Beide waren per Du – sie hatten 15 Jahre zuvor als Studenten dem Gründungskomitee der Freien Universität angehört.

Doch vor allem wegen Shephard Stones letzten Satzes – „Betrachten Sie dies nur als persönlichen, informellen Vorschlag“ – wollte die Universitätsleitung nichts überstürzen. Deshalb setzte Hartwich in seinem Brief an Senatskanzleichef Spangenberg hinzu: „Ehe jedoch endgültige Schritte unternommen werden, müßten wir das Einverständnis des Regierenden Bürgermeisters haben, da wir uns auf keinen Fall in das Programm hineindrängen wollen.“

Grünes Licht vom Schöneberger Rudolph-Wilde-Platz kam umgehend, und erleichtert nahm die Universitätsleitung auch zur Kenntnis, „dass die außerordentlichen Ausgaben“, die im Zusammenhang mit dem Besuch entstehen, „vom Senat von Berlin übernommen werden“. Am 27. März traf der Akademische Senat der Freien Universität einstimmig den vertraulichen Beschluss, Kennedy einzuladen und ihm die Ehrenbürgerwürde der Universität zu verleihen.

Wenig Zeit hatte die Universität, um den Besuch von Kennedy zu planen

Bis zum Besuch blieben 91 Tage, und der Organisationsaufwand war enorm. Doch Universitätsleitung, Fakultäten, Professoren und Studierende stemmten die Aufgaben im Schulterschluss. Einzige bekannte Panne: Ein Wagen der West-Berliner Senatsinitiative „Studio am Stacheldraht“, der sonst über die Mauer hinweg Bürger im Ostteil der Stadt mit Informationen und Nachrichten beschallte, brachte bei einer Lautsprecherprobe die Scheiben der rund 300 Meter entfernten Mensa zum Bersten.

Der Senat überwies später insgesamt 66 673,55 DM, doch lückenlos finanzierte er den Besuch nicht, wie ein Mitarbeiter der Freien Universität in einer Aktennotiz wütend vermerkte: Er sei vom Senat „in scharfer Form“ dafür gerügt worden, bei den Berliner Stofffabriken als Vertreter einer Behörde nur zwei statt drei Prozent Skonto und keinen „Sondernachlaß“ in Anspruch genommen zu haben. Zur Strafe für dieses Handeln „gegen die Bestimmung zur Verwendung öffentlicher Mittel“ ließ die Senatskanzlei die Universität auf exakt 4,69 DM sitzen.

Bei dem angeprangerten Posten handelte es sich allerdings um eine der wichtigsten Anschaffungen für einen reibungslosen Ablauf des Besuchs – denn für die verausgabten 117,60 DM wurden 108 Armbinden für jene Studenten erworben, die die Berliner Polizei bei der Kontrolle an den sechs Eingängen zum Veranstaltungsareal unterstützen sollten. Vom Senat nicht gerügt wurden immerhin die Kosten für 348 Flaschen Coca Cola, mit denen die Ordner, Polizisten und die Mitarbeiter des US-Geheimdienstes ihren deutsch-amerikanischen Durst gelöscht hatten.

Welch wichtige Aufgabe den Ordnern zukommen würde, zeigte sich spätestens vier Tage vor Kennedys Rede, als der Ansturm auf die rund 20 000 Eintrittskarten einsetzte: In der Nacht vor der Ausgabe sicherten sich viele Studenten mit Klappstühlen und Thermosflaschen einen guten Platz in der Schlange. Vier Stunden nach Öffnung des Büros waren die 6000 Karten an der Freien Universität vergriffen. Die restlichen Exemplare des begehrten satinierten Kartons im Format 14 mal 9 Zentimeter mit Strichätzung hatten Studenten der anderen Hochschulen erhalten.

Sahen die deutschen und amerikanischen Behörden Kennedys Sicherheit als besonders gefährdet an? Die West-Berliner Polizei warnte die Bevölkerung, entlang Kennedys Fahrtroute „auch besonders hartnäckig“ fragende Unbekannte unter keinen Umständen in die Wohnung zu lassen, nicht mit geworfenen Blumensträußen aus dem Fenster Verwirrung zu stiften und verdächtige Personen zu melden.

Präsident Kennedy litt bei seiner Rede unter starken Schmerzen

Die damalige Jura-Studentin Barbara Saß-Viehweger erinnert sich daran, dass sie die Bibliothek ihrer Fakultät schon Tage vor dem Ereignis nicht mehr benutzen durfte, weil der amerikanische Sicherheitsdienst die Räume kontrolliert und vorübergehend gesperrt hatte. Und der Student der Freien Universität mit der Matrikelnummer 1, Stanislaw Karol Kubicki – damals schon ausgebildeter Arzt, später Medizinprofessor – betont, dass das Krankenhaus-Personal West- Berlins damals aus Angst vor einem Anschlag in Alarmbereitschaft gehalten wurde.

Doch die Sicherheitsvorkehrungen bei Kennedys An- und Abfahrt im offenen Lincoln-Straßenkreuzer und bei seiner Rede in Dahlem waren lax: Erstzunehmende Kontrollen der Besucher gab es nicht, und es war sehr leicht, sich dem Präsidenten unbehelligt zu nähern.

Abgesehen davon war anscheinend jedes Detail geregelt – doch wie würde das Wetter? Die Aussichten waren schlecht, ausgerechnet für den Tag der Rede prognostizierte das Institut für Meteorologie der Freien Universität eine Kaltfront mit Schauern und Gewittern über Berlin. Noch am Vormittag griff Außenamtsleiter Horst W. Hartwich zum Telefon und bestellte für die Tribüne 300 Quadratmeter Plastikfolie. Passend zur politischen Konstellation der Zeit versicherten die Lieferanten später in der Rechnung, dass die Ware „aus der Bundesrepublik bzw. West-Berlin“ stamme. Es blieb trocken.

Kennedy war für die Zeremonie mit einem ausführlichen Ablaufplan instruiert worden. Doch nur Rohrleger Peter Arndt und einige Kollegen konnten im Nachhinein wohl begreifen, wie schwer dem amerikanischen Präsidenten allein die anscheinend harmlose Anweisung in dem Papier gefallen sein musste, am Ende der in Latein verlesenen Laudatio aufzustehen, einige Schritte zum Rand der Bühne zu gehen und dort Universitätsrektor Ernst Heinitz die Hand zu schütteln.

Denn Peter Arndt erlebte dank seines farbigen Ansteckers noch etwas, das den Tausenden Besuchern damals verborgen blieb und von dem kein Journalist je berichtete: „Wir waren nach der Rede neugierig und sind Kennedy in den Henry-Ford-Bau gefolgt. Als wir ihn sahen, war er gerade zusammengebrochen.“ Kennedy litt unter enormen Rückenschmerzen und war von Helfern auf eine Steinbank unter der Freitreppe des Gebäudes gelegt worden – umringt von ratlosen Universitätsmitarbeitern und von amerikanischem Sicherheitspersonal. Peter Arndt weiß nicht mehr, welche Farbe der Anstecker hatte, der ihn und Kennedy so nahe brachte, doch fassen kann er sein Glück bis heute kaum.