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Forschen für sichere Schulen

Bund hilft, Motive für Gewalt zu untersuchen

16.04.2013

„Wenn du mich nochmal schubst, passiert etwas!“ Waren solche Sätze unter rangelnden Kindern und Jugendlichen früher meist folgenlos, schrillen heute bei Lehrern und Mitschülern die Alarmglocken. In Deutschland wählten junge Einzeltäter seit dem Jahr 1999 mehr als zehn Mal die Schule als Ort ihrer Attacken. „Wir liegen damit bei den sogenannten School Shootings auf Platz zwei hinter den USA“, sagt Herbert Scheithauer, Professor für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der Freien Universität. Etwa 200 bis 300 Androhungen solcher Taten verzeichneten die Schulen eines jeden Bundeslandes jährlich, noch immer seien die Hintergründe und Motive unzureichend erforscht.

Dies zu ändern, setzt sich ein neuer Forschungsverbund zum Ziel. Der Verbund „Tat- und Fallanalysen hochexpressiver zielgerichteter Gewalt (TARGET)“ unter der Koordinierung von Herbert Scheithauer wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit mehr als drei Millionen Euro unterstützt. Renommierte Wissenschaftler unter anderem aus der Kriminologie, Sozialpädagogik, Psychiatrie, Soziologie und Forensik kooperieren bei der Analyse aller bisherigen deutschen Fälle – weltweit erstmals komme ein solches Team zusammen, sagt Scheithauer. Forscher werden die Mechanismen von Schulmassakern auch mit denen bei Amokläufen von Erwachsenen und bei Taten mit terroristischem Hintergrund vergleichen. „Für Drohungen wollen wir bessere Indikatoren ermitteln, um Spaß von Ernst trennen zu können“, sagte Jens Hoffmann vom Institut Psychologie und Bedrohungsmanagement Darmstadt, einem Kooperationspartner von TARGET.

„Bislang stellen wir häufig fest, dass sich jugendliche Gewalttäter gegenseitig ideell beeinflussen, von der Kleidung bis zur Musik“, sagt die Kriminologin und Kooperationspartnerin von der Universität Gießen Britta Bannenberg.

Unmittelbar nach solchen Vorfällen sei seitens der Medien Vorsicht geboten, da es oft gehäuft zu Drohungen und Nachahmungstaten komme. Es seien Fälle bekannt, in denen sich Jugendliche oder Erwachsene etwa bei der Wahl ihrer Tatwaffe ein Vorbild an Attentaten nahmen, die Jahrzehnte zurückliegen. Bannenberg berichtet auch von einem Familiendrama, das in einem Amoklauf endete. Die Wissenschaftlerin wertet Gewaltausbrüche, die auf solch drastische Weise in die Öffentlichkeit getragen würden, als relativ junge Phänomene. Täter hegten oftmals einen Wunsch nach Anerkennung – und sei es erst nach dem Tod. „Wie der Fall von Anders Breivik in Norwegen gezeigt hat, haben wir es nicht mehr nur mit nationalen Phänomenen zu tun – die Täter werden weltweit heroisiert.“

Mit überlebenden Tätern hoffen die Forscher künftig ebenso Interviews führen zu können wie mit deren Angehörigen. Bislang basiert die Forschung häufig allein auf Medienberichten; viele Akten liegen unter Verschluss. Durch die Zusammenarbeit mit Polizei und Medienverbänden sollen die Erkenntnisse aus dem Projekt rasch in die Praxis überführt werden. Auch die Polizei könne von dem Ergebnis profitieren, um Drohungen einzuschätzen, sagt Scheithauer.

Vom neuen Wissen profitieren könnten auch Präventionsprojekte wie das kürzlich abgeschlossene Früherkennungsprogramm „Networks Against School Shootings“ (NETWASS) der Freien Universität – ebenfalls von Herbert Scheithauer und seinen Mitarbeitern entwickelt. Mehr als 100 Schulen in Berlin, Brandenburg und Baden-Württemberg haben sich in den vergangenen drei Jahren daran beteiligt: Lehrerkollegien besuchten Fortbildungen und bildeten kleine Krisenpräventionsteams. Während der siebenmonatigen Testphase wurden insgesamt 240 Vorfälle in Beratungssitzungen erfolgreich behandelt und ausgestanden. „Darunter waren zwar auch viele Mobbingfälle und Gewaltandrohungen.

Aber in zehn bis 20 Fällen war es entscheidend, dass wir mit den jeweiligen Schülern gearbeitet haben“, bilanziert Scheithauer. Für den Entwicklungspsychologen hat das Projekt NETWASS, das als erstes seiner Art in Deutschland grundlegend – und erfolgreich – evaluiert wurde, gezeigt, dass sich das Sicherheitsgefühl an Schulen, das Schulklima und das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern mit recht geringem Aufwand verbessern lässt.