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Das Ohr an der Stadt

Wissenschaftler untersuchen, wie sich die Sprache in Ballungsräumen und auf dem Land verändert

16.10.2012

Gute Zuhörer: Wissenschaftler halten Metropolen bei der Entwicklung von Sprachen für richtungsweisend. In Städten werden Sprachen gleichförmiger und bunter.

Gute Zuhörer: Wissenschaftler halten Metropolen bei der Entwicklung von Sprachen für richtungsweisend. In Städten werden Sprachen gleichförmiger und bunter.
Bildquelle: istockphoto/Dino4

Für Soziolinguisten sind Städte in etwa das, was Biotope für den Biologen sind: urständige Forschungsgebiete, in denen vieles zusammenkommt, einiges zugrunde geht und ständig Neues entsteht. „Language and the City“war deshalb auch die große Überschrift über dem 19. Sociolinguistic Symposion, das kürzlich an der Freien Universität Berlin stattfand. Auch die Organisatoren – Sprachwissenschaftler der Freien Universität – kommen in ihrer Forschung um die Stadt kaum herum.

Für Soziolinguisten sind Städte in etwa das, was Biotope für den Biologen sind: urständige Forschungsgebiete, in denen vieles zusammenkommt, einiges zugrunde geht und ständig Neues entsteht. „Language and the City“ war deshalb auch die große Überschrift über dem 19. Sociolinguistic Symposion, das kürzlich an der Freien Universität Berlin stattfand. Auch die Organisatoren – Sprachwissenschaftler der Freien Universität – kommen in ihrer Forschung um die Stadt kaum herum.

Sommer in Berlin, ein Gespräch zwischen Jugendlichen über Handy. Und mittendrin dieser Satz: „Ich bin noch Potsdamer Platz. Aber ich fahr jetzt Schwimmbad.“ Wer das Gespräch belauscht, mag sich denken: „Typisch!“ Aber wofür eigentlich? Für Berlin? Für die Jugend? Unsere Zeit etwa? Matthias Hüning, Professor für Niederlandistik und Sprachwissenschaftler an der Freien Universität, weiß es genauer. Für ihn sind Sprachphänomene wie „Kiez-Deutsch“ nichts Neues. Und das Auslassen des Artikels bei Lokalangaben tatsächlich nicht ungewöhnlich. Typisch für sprachliche Entwicklungen in Großstädten wie Berlin. In einer Umgebung, in der durch Migration viele Sprachen aufeinandertreffen, ist sprachliche Vereinfachung die Regel. Auch für deutsche Muttersprachler: „Beobachten Sie sich einmal selbst – höchstwahrscheinlich haben Sie auch schon einmal etwas gesagt wie ,Ich bin gerade Südstern‘. Wenn man darauf achtet, hört man das überall, auch beispielsweise bei Studenten, obwohl sie das meist bestreiten.“

Wenn also auch unter Akademikern der sprachliche Schlendrian Einzug hält – gibt das dann nicht all jenen Recht, die seit Langem den Untergang der deutschen Sprache prophezeien? Mitnichten, sagt Uli Reich, Professor für Romanistik an der Freien Universität. Sein Fachgebiet ist nicht das Kiez-Deutsch auf den Straßen Berlins, aber sprachliche Entwicklungen in den Mega-Citys Südamerikas. Trotzdem gebe es deutliche Parallelen. Die Möglichkeit, zwischen Identitäten hin- und herzuspringen – auch das könne man über einen „Slang“ zum Ausdruck bringen. Wobei dieses Wort in der Sprache der Linguisten „Varietät“ heißt.

In Rio de Janeiro etwa werde eine Varietät des Portugiesischen gesprochen, die sich Português Popular nennt. Und die derzeit einen sozialen Aufstieg erlebe: „Lange Zeit brachte man sie in Brasilien ausschließlich mit Sklaverei, Migration, Analphabetismus und sehr niedrigem sozialen Status in Verbindung. Weil aber die DJs aus der Peripherie diese Form sprechen und das auch die Jugendlichen aus der Mittelschicht schick finden, ahmen sie nun genau das nach“, sagt Reich. Die Sprache der Straße erreicht so auch gehobene Schichten der Gesellschaft. Anpassung, sagt Reich, funktioniere bei Sprachen eben in viele Richtungen. Nicht nur von unten nach oben.

Die Stadt, davon sind die meisten Sprachwissenschaftler überzeugt, ist für Sprachen und ihre Entwicklung richtungweisend. Denn zum einen machen Städte Sprache gleichförmiger. Es herrsche die Beschränkung aufs Wesentliche, wenn jeder jeden verstehen soll. Gleichzeitig verästelt sie sich dort auch, treibt aus, schießt ins Kraut und geht auseinander. Eine Stadt, sagt Uli Reich, sei schließlich keine sprachliche Kategorie, sondern eine sozialgeografische.

Hier konzentriert sich Migration über verschiedene Ebenen auf engem Raum: „Nehmen Sie Berlin: Hier gibt es klassische preußische Dialekte und dann alle anderen Dialekte Deutschlands. Damit passiert in der Stadt etwas, das wir Ausgleich nennen: Die Herstellung einer gemeinsamen Sprache auf Basis verschiedener Dialekte“, sagt Reich. Doch Schwäbisch, Bairisch oder Sächsisch mischen sich in Berlin nicht nur mit dem Berliner Deutsch, sondern auch mit anderen germanischen Sprachen. Zu dieser Mischung kommen Türkisch, Arabisch, Russisch und viele andere. „Wenn all diese Sprachen miteinander interagieren, in einer sogenannten Sprachökologie, dann entsteht ein ,Glossotop‘.“

Um verständlich zu bleiben, prägten sich in der Stadt schon immer Standards aus. Nur so konnte Migration sprachlich bewältigt werden. Standards seien deshalb ein wichtiger Schritt, der aber immer auch Opfer fordere: „Stadt ist einerseits der Friedhof der Sprachen. Und andererseits die Geburtsstätte für die wahnsinnigsten sprachlichen Neuerungen“, fasst es Matthias Hüning mit den Worten eines Kollegen zusammen.

Hüning, der die Standardisierung von Sprachen in Europa erforscht, kennt viele Beispiele aus der europäischen Geschichte, in denen eine Stadt die Sprache eines ganzen Landes geprägt hat. „In Amsterdam etwa gab es eine große Migration aus dem Süden des Sprachgebiets, dem heutigen Belgien. Die Merkmale der südlichen Dialekte sind in die Standardsprache eingeflossen. Und aus diesem Mix ist das Niederländische entstanden, das heute gesprochen wird.“ Ein Nebeneffekt der Einheitssprache: Die Dialekte verschwinden. Ähnliche Entwicklungen konnten Linguisten weltweit auch in anderen Großstädten erkennen. Auf die Großstädte Südamerikas, sagt Uli Reich, treffe das in jedem Fall zu. „São Paulo war einmal eine der polyglottesten Städte der Welt. Afrikanische, europäische und asiatische Sprachen trafen dort aufeinander. Das verschwand alles. Heute ist São Paulo streng einsprachig und somit ein riesiger Sprachfriedhof.“ Sprachinseln, auf denen bis heute auch Dialekte der Einwanderer überlebten, fänden sich nur noch auf dem Land.

Auch in Deutschland überleben Dialekte eher auf dem Dorf. Doch auch dort würden sie immer schwächer, sagt Matthias Hüning. Er sieht darin ein Zeichen dafür, dass zunehmende Mobilität und Kommunikationsmöglichkeiten zu sprachlicher Vereinheitlichung führen. Fernsehen und Internet machten es möglich: „Heute kann man überall das gleiche Informationsangebot wie in der Stadt abrufen: Auch im abgelegensten Dorf habe ich die Möglichkeit, Theateraufführungen online anzuschauen. Der Unterschied zwischen Stadt und Land verwischt damit.“ Aber was bedeutet das? Sprachliche Hochkultur für alle? Oder Kiez-Deutsch überall?

„Wenn ich selbst in der Blockhütte im Schwarzwald per Internet mit allen Varietäten des Deutschen in Berührung komme, dann enträumlicht sich Sprache.“ Die Stadt mit ihren Sprachen, sie ist überall. Und nirgends, weiß Uli Reich. Globale Kommunikation könnte die geografische Kategorie der Stadt für die Entwicklung der Sprache auflösen: „Im Prinzip wäre das dann das Ende der Urbanität der Sprache.“