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„Nichts steht für sich selbst!“

Uwe Tellkamp hielt die erste Siegfried-Unseld-Vorlesung an der Freien Universität.

25.06.2012

Begehrter Bestseller-Autor: Uwe Tellkamp ("Der Turm") erfüllte nach seinem Vortrag an der Freien Universität die Autogrammwünsche zahlreicher Besucher.

Begehrter Bestseller-Autor: Uwe Tellkamp ("Der Turm") erfüllte nach seinem Vortrag an der Freien Universität die Autogrammwünsche zahlreicher Besucher.
Bildquelle: Frank Nürnberger

Er war gekommen, um über Mythen zu sprechen – am Ende war es ein packender Vortrag über das Wesen von Literatur, über die Beziehung zwischen Dichtung und Wahrheit. Uwe Tellkamp, Preisträger des Deutschen Buchpreises und Autor des großen Zeitromans „Der Turm“, hielt auf Einladung des Dahlem Humanities Center die erste Siegfried-Unseld-Vorlesung an der Freien Universität. Es war der Auftakt einer neuen Vorlesungsreihe, die in Kooperation zwischen Freier Universität Berlin und Suhrkamp Verlag nun alle zwei Jahre stattfinden soll.

Der Vortrag, mit dem Tellkamp die Vorlesung eröffnete, trug den Titel „Botenstoffe“. Er fragte nicht nur nach der Bedeutung des Mythos für die Literatur, sondern beschäftigte sich auch mit der Frage, inwiefern ein Roman „politisch sein darf“.

Jenseits von Mythen und Politik sprach Tellkamp aber vor allem über die Wirkungskraft von Fiktion.

„Die Welt, wie ich sie draußen erfahre, existiert nicht im Roman“, sagte Tellkamp vor rund 300 Zuhörern im Hörsaal 1a der Freien Universität, im Beisein des Präsidenten der Freien Universität, Peter-André Alt, und der Suhrkamp-Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz. Tellkamp, der Medizin studiert und den Fall der DDR als Zeitzeuge beobachtet hat, gab einen Einblick in seine Poetologie, dank der er in seinem Roman „Der Turm“ eine eigene Welt zu erschaffen und symbolisch aufzuladen vermochte. Denn obwohl der Text Tatsachen thematisiert – die bürgerliche Elite in Dresden und den Zusammenbruch der DDR – , behandele sein Roman anthropologische Konstanten, die universelle Gültigkeit hätten. Aus dem gleichen Grund würden wir uns für Wagners „Ring der Nibelungen" interessieren: Auch heute noch erscheine uns Wagners mythologischer Kosmos aktuell.

Es ging also um das Verhältnis zwischen Dichtung und Wahrheit. Tellkamp sprach über die friedliche Revolution von 1989, in der erst der falsche Ausruf eines Journalisten letzte Tatsachen erschuf. Gemeint war Hanns Joachim Friedrichs Bericht in den Tagesthemen vom 9. November 1989, in dem er den Fall der Mauer verkündete, bevor die deutsch-deutsche Grenze überhaupt offen stand. Das aufgebrachte Volk nahm die Nachricht jedoch für wahr, stürmte die Mauer und verwandelte eine fiktionale Botschaft in handfeste Realität. Tellkamp erklärte, dass sein Roman „Der Turm“ ein soziologischer sei, in dem „jedes Ding mit dem anderen in Beziehung steht“. Die allegorische Qualität seiner Dichtung machte er am Beispiel der „Kohleninsel“ plausibel, dem Sitz eines fiktiven Beamtenapparats, der im Roman den Organisationsstrukturen der DDR ähnelt. „Was ist Bürokratie?“, fragte Tellkamp. Das Zusammenwirken der Ebenen verglich der Autor mit einer kafkaesken Unterwasserwelt, in der jedes Teil seinen Platz hat, ohne dass sich deren Funktionsweise rational erklären ließe. Die einzelnen Mitarbeiter verglich der Autor mit Unterwassertieren, die sich gegenseitig kontrollierten und legitimierten. Im „Turm“ sind es Boten, die den fiktionalen Roman mit Stoff beliefern – und doch könnten sie unserer realen Welt entsprungen sein.