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"Obamacare" und die Gesundheit der amerikanischen Demokratie

Wie in den USA um die Einführung der Gesundheitsreform gestritten wird

23.11.2011

"Obamacare": Wie der amerikanische Präsident seine Gesundheitsreform verteidigt.

"Obamacare": Wie der amerikanische Präsident seine Gesundheitsreform verteidigt.
Bildquelle: istockphoto/Ricardo Reitmeyer

Von den US-Demokraten wurde sie als historisches Ereignis bejubelt: Am 23. März 2010 unterschrieb der amerikanische Präsident Barack Obama seine im Wahlkampf angekündigte Gesundheitsreform, den Patient Protection and Affordable Care Act. In der Tat hatten seit 1935 sieben Präsidenten erfolglos versucht, das marode amerikanische Gesundheitssystem zu reformieren. Vor allem Harry Trumans und Bill Clintons gescheiterte Versuche waren herbe Niederlagen für die beiden Präsidenten gewesen. Auch Obama musste lange zittern und viele Kompromisse mit den Konservativen seiner eigenen Partei eingehen, bis das von konservativen Medien als „Obamacare“ diffamierte und umstrittene Gesetz ohne eine einzige Republikanische Stimme im Kongress verabschiedet werden konnte.

Mittlerweile ist der Name etabliert – ob dauerhaft als Schmähung oder als Symbol eines historischen Erfolgs, muss sich noch zeigen. Dabei ist Obamacare längst nicht die radikale, „sozialistische“ Reform, als die sie in Amerikas konservativen Kreisen verschrien ist. Die privaten Versicherungsunternehmen, die noch 1994 Bill Clintons Reformversuch verhindern konnten, erhielten von Anfang einen Sitz am Verhandlungstisch und kommen durch das Gesetz zu Millionen neuer Kunden. Die von den Partei-Linken bevorzugte Single Payer Option, also ein staatliches Versicherungssystem, in das jeder Steuerzahler einzahlt, wurde gar nicht erst in die Verhandlungen eingebracht. Das amerikanische Privatversicherungssystem wird also nicht grundlegend verändert, die bestehenden staatlichen Gesundheitsprogramme – wie etwa Medicare für Rentner, Medicaid für Sozialhilfeempfänger, S-CHIP für Kinder aus einkommensschwachen Familien – werden nicht nennenswert ausgeweitet. Im Gegenteil: durch die Finanzkrise und die Notwendigkeit, die Gesundheitsreform zu finanzieren, sind diese von Kürzungen bedroht, insbesondere angesichts der gegenwärtigen Haushaltskrise der USA.

46 Millionen Amerikaner haben keine Krankenversicherung

Warum war eine Reform notwendig? Rund 46 Millionen Menschen leben in den USA ohne Krankenversicherung, Millionen weitere sind dramatisch unterversichert. Außerdem müssen viele Menschen um ihren Versicherungsschutz fürchten, insbesondere wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren oder wechseln. Die gewinnorientierten Versicherungsunternehmen haben einen höheren Verwaltungsanteil als staatliche Systeme, und viele ihrer Angestellten sind nur damit beschäftigt, Ansprüche von Versicherten abzuweisen beziehungweisederen Verträge zu kündigen, wenn die Kosten durch schwere oder chronische Krankheiten der Kunden zu hoch werden. Gesundheitskosten waren vor der Hypothekenkrise der Hauptgrund für Privatinsolvenzen in den USA.

Mit dem Reformgesetz versucht die Regierung nun, immerhin 30 Millionen Bürger zusätzlich zu versichern. Das Gesetz enthält ein „individuelles Mandat“, eine Verpflichtung zum Kauf einer privaten Krankenversicherung für nahezu alle nicht anderweitig versicherten Amerikaner. Bürger aus unteren und mittleren Einkommensschichten haben Anrecht auf staatliche Zuschüsse, und es sollen in den einzelnen Bundesstaaten sogenannte Health Care Exchanges gegründet werden, damit Gruppenversicherungen auch für Selbstständige, Arbeitslose oder Arbeitnehmer kleinerer Unternehmen möglich werden. Ohne eine solche Gruppenversicherung, zu denen die meisten Amerikaner über ihre Arbeitgeber Zugang haben, sind die Policen sehr viel teurer und enthalten oft so viele Selbstbeteiligungen und Ausschlüsse, dass sie nur im Katastrophenfall, etwa bei schweren Krankheiten oder Unfällen wirklich greifen.

Versicherungen werfen Patienten raus

Die Reform schränkt außerdem die Möglichkeit der Versicherer ein, Menschen mit schon vorhandenen Krankheiten abzulehnen beziehungsweise diese „preexisting conditions“ nicht zu versichern. Erschwert wird auch die Strategie der Versicherungen, teure Patienten wegen Formfehlern aus der Versicherung zu werfen. Das unparteiliche Congressional Budget Office hat errechnet, dass die Reform das Haushaltsdefizit in den kommenden zehn Jahren um 138 Milliarden Dollar reduzieren wird.

Warum kam es angesichts dieser recht zahmen Reform, die zudem stark derjenigen des früheren Republikanischen Gouverneurs von Massachusetts und jetzigem Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur, Mitt Romney, durchgesetzten nachempfunden ist, zu den hasserfüllten politischen Grabenkämpfen? Diese begannen bereits im Jahr 2009, als sich die Abgeordneten und Senatoren in ihren Wahlkreisen heftigen Anfeindungen ausgesetzt sahen, wo von angeblich geplanten „Todeskommissionen“ die Rede war, die darüber entscheiden sollten, wer im Alter noch behandelt würde? War die Reform verantwortlich für die Niederlage der Demokraten bei den Kongresswahlen 2010? Obwohl der Senat gehalten werden konnte, verlor Obamas Partei auf der ganzen Linie. Im Repräsentantenhaus verloren 63 Demokratische Abgeordnete ihren Sitz an Republikaner; der Machtwechsel war der größte Umschwung seit 1948. Dazu gibt es nun jeweils sechs Demokratische Gouverneure und Senatoren weniger.

Eine Reihe von konservativen Politikern und Journalisten behaupten, die Gesundheitsreform sei für den katastrophalen Wahlausgang ausschlaggebend gewesen. Diese These hält einer genaueren Analyse jedoch nicht stand. Tatsächlich sind die Gründe für die Niederlage der Demokraten vielfältig und – wie man in der statistischen Datenanalyse sagt – „überdeterminiert“. Die unbeliebte Gesundheitsreform hat ohne Zweifel zu den schlechten Beliebtheitswerten der Regierungspartei beigetragen, doch die schlechte Wirtschaftslage und die hohe Arbeitslosigkeit haben wahrscheinlich die entscheidende Rolle gespielt. Denn dass sich die öffentliche Stimmung in einer Rezession gegen den Präsidenten, seine Politik und seine Partei richtet, ist der Normalfall. In der Rezession von 1982 verloren zum Beispiel Reagans Republikaner die Kongresswahlen. Wie Jonathan Chait vom Politik-Magazin New Republic argumentiert, hätten die Demokraten die öffentliche Unterstützung in der Rezession auf jeden Fall verloren, ganz unabhängig von ihrer Politik.

Gute Chancen für die Gesundheitsreform

Die Gesundheitsreform als solche war kurz vor der Wahl nicht einmal besonders unbeliebt. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center vom 10. Oktober 2010 sprachen sich 38 Prozent der Befragten für die Gesundheitsreform aus – und 45 Prozent dagegen. Eine Umfrage des Fernsehsenders ABC und der Tageszeitung Washington Post vom 3. Oktober 2010 ergab sogar, dass 47 Prozent der Befragten dafür und 48 Prozent dagegen waren. Das Gallup-Institut befragte am 30. August 2010 bei 1021 Bürgerinnen und Bürgern, welcher der beiden Parteien sie bestimmte Politikinhalte zutrauen. Demokraten bekamen in der Gesundheitspolitik 44 Prozent der Stimmen, die Republikaner nur 43 Prozent – dies war der einzige Politikbereich, in dem die befragten Bürger den Demokraten mehr vertrauten als den Republikanern.

Was den Demokraten aber zweifellos geschadet hat, ist die Aggressivität und Lautstärke, mit der insbesondere die Tea Party-Bewegung die Reform angegriffen hat, finanziert von marktlibertären Unternehmern und angespornt von konservativen Medien, allen voran Fox News Channel. Glenn Beck, Moderator der Glenn-Beck- Show bei Fox, wurde durch seine Kommentare und Organisationstätigkeit gar zu einem Symbol der Tea Party- Bewegung. Zum Ende des Jahres muss er gehen, trotzdem kann man kaum hoffen, dass die polarisierten und polarisierenden amerikanischen Medien den Weg zum professionellen Journalismus wiederfinden.

Warum konnte Obamas Gesundheitsreform solch eine entschlossene, zum Teil hasserfüllte Opposition? Der Statistiker und Publizist Nate Silver schreibt in seinem Five-Thirty-Eight-Blog auf der Webseite der New York Times, dass die Gesundheitsreform im Wahljahr 2008 relativ beliebt war – beliebt genug, dass Barack Obama mit seinem Reformversprechen gewählt werden konnte. Im Frühling 2009, einige Monate nach der Wahl, waren noch ungefähr 40 Prozent der Bevölkerung für die Reform, 25 Prozent dagegen, und 35 Prozent unentschieden. Als im März 2010 das Gesetz verabschiedet wurde, stimmten der Reform immer noch ungefähr 40 Prozent zu, doch zu diesem Zeitpunkt waren schon 50 Prozent dagegen; die restlichen zehn Prozent waren unentschieden. Nahezu alle vorher unentschiedenen Wähler, die nun eine Meinung äußerten, hatten sich also gegen die Reform entschieden. Wie konnte dies geschehen?

Obama zeitweise ohne Kommunikationstalent

Zum einen hatte das Weiße Haus eine schlechte Kommunikationsstrategie – schon zuvor machte der Präsident einige Male den Eindruck, sein im Wahlkampf beeindruckendes Kommunikationstalent verloren zu haben. Kommunikation und Strategie wurden weitgehend der Führung der Demokraten im Repräsentantenhaus überlassen, die sich ohnehin nie an hohen Zustimmungswerten erfreuen konnte. Zum anderen zeigt der von Nate Silver rekonstruierte Ablauf der Ereignisse eine Überforderung der traditionell staatsskeptischen amerikanischen Bevölkerung: Noch unter Präsident George W. Bush wurde im Oktober 2008 ein Hilfspaket von 800 Milliarden Dollar verabschiedet, um eine ökonomische Katastrophe für die amerikanische Wirtschaft abzuwenden. Die Demokraten stimmten mit großer Mehrheit zu. Im Februar 2009 verabschiedete die Regierung Obama mit nahezu uneingeschränkter Unterstützung der Demokraten im Kongress eine weitere Finanzspritze von 800 Milliarden Dollar. Doch die Arbeitslosenzahlen stiegen im Zeitraum von Februar bis Juli 2009 um 3,7 Millionen, und damit noch stärker als die Volkswirte es erwartet hatten – eine ökonomische Katastrophe.

Auf den ersten Blick schienen die Rettungs- und Konjunkturpakete wirkungslos. Wie viel schlimmer es ohne sie geworden wäre, ließ sich ja nicht zeigen oder gar beweisen. Dazu kamen die ständig steigenden Schulden, die im Sommer 2011 zu einer beispiellosen Finanzkrise der USA geführt haben. In dieser Situation, so Silver, konnte die Gesundheitsreform, wiederum mit ungefähr 800 Milliarden Dollar mittelfristigen Kosten, kaum große Zustimmung in der Bevölkerung bekommen. Silver argumentiert, dass die Amerikaner hier ein Muster verantwortungsloser Staatsausgaben wahrgenommen und den Staat entsprechend abgestraft haben.

Vielleicht gab es für die Obama-Demokraten wirklich nichts zu gewinnen, möglicherweise wird der Supreme Court als oberster Gerichtshof der Vereinigten Staaten am Ende auch noch einer der laufenden Klagen gegen die Gesundheitsreform stattgeben: Tatsächlich ist die Verpflichtung zum Kauf eines privat angebotenen Produkts, bei gleichzeitig mangelhafter Regulierung der Anbieter, mindestens fragwürdig. Oder den Republikanern gelingt es, die Reform schlicht „auszutrocknen“. Denn um sie wie geplant durchführen zu können, müssen viele weitere Haushaltsentscheidungen erst noch getroffen werden – etwa in Bezug auf die für ihren Erfolg wichtigen Health Care Exchanges, die von den Einzelstaaten eingerichtet werden sollen.

Paranoide Züge bei der Tea-Party-Bewegung

Vielleicht finden viele Einzelstaaten Wege, ganz aus der Reform auszuscheren, und zwar nicht über bessere Single-Payer-Systeme wie etwa Vermont, sondern, zum Beispiel, indem sich Gouverneure mit der Implementierung solange Zeit lassen, bis die Republikaner im Kongress und Weißen Haus das Gesetz aufheben können. Die Demokraten werden für all diese Niederlagen wahrscheinlich die unvernünftigen, zu keinem Kompromiss bereiten Populisten der Tea Party-Bewegung verantwortlich machen. In der Tat hat deren Anti-Establishment- Haltung die von dem amerikanischen Historiker Richard Hofstadter beobachteten „paranoiden“ Züge.

Letztlich müssen sich die Demokraten aber auch fragen, warum sie keine umfassende neue Vision für die USA entwickelt haben, warum die Krise nicht dazu genutzt wurde, die regulative Rolle des Staates in einer über Jahrzehnte immer weiter liberalisierten und deregulierten Wirtschaft und Gesellschaft neu zu definieren. Die amerikanische Bevölkerung, und das schließt die Tea Party-Bewegung mit ein, ist zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Banken und Fondsgesellschaften mehr als bereit; derzeit macht sich die Wut über die Wall Street in der „Occupy“-Bewegung an vielen Orten Luft.

Es sind die eigenen Verbindungen zur Wall Street und zur amerikanischen Geschäftswelt, welche die Demokraten letztlich daran hindern, das diskursive Terrain der Republikanischen Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verlassen und ihre Hegemonie herauszufordern. Obama sprach über vieles mit seinen Landsleuten, seine eloquente Rede zum Rassismus zollte zu Recht Respekt ab. Aber er hat über Steuern nie grundsätzlich, sondern meist nur im Zusammenhang mit Steuersenkungen geredet; nur die ganz Reichen waren davon bisher ausgenommen.

Auch beim Thema Gesundheit blieb Obama seltsam überzeugungslos. Statt die in der Bevölkerung anfangs vorhandene Unterstützung aufzugreifen und entschlossen eine Vision zu formulieren, überließ er die Details dem prinzipien- und würdelosen Geschacher des Kongresses. Max Weber unterschied in seinem Essay „Politik als Beruf“ von 1919 zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Letztere richtet sich nach tatsächlichen Ergebnissen und deren praktischen Konsequenzen. Erstere dagegen nach Prinzipien, ungeachtet der Konsequenzen. Der wahrhaft große Politiker vereint beide Ethiken, so Weber. Obama könnte einen Schuss Gesinnungsethik vertragen, nicht nur bei der Verteidigung seiner Gesundheitsreform.