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„Der Bahnhof steht als Symbol für etwas Größeres“

Von Stuttgart ins Wendland – neue Formen des Protests?

08.12.2010

Am Bauzaun rund um die Nordseite der Stuttgarter Bahnhofsbaustelle haben viele Bürger als Zeichen des Protests Zettel und Plakate aufgehängt.

Am Bauzaun rund um die Nordseite der Stuttgarter Bahnhofsbaustelle haben viele Bürger als Zeichen des Protests Zettel und Plakate aufgehängt.
Bildquelle: Patricia Kämpf

Die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm erreichten durch Polizeischutz kaum die Teilnehmer des Gipfels.

Die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm erreichten durch Polizeischutz kaum die Teilnehmer des Gipfels.
Bildquelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung

Es wird wieder mehr protestiert in Deutschland. Aber in Stuttgart und im Wendland gehen im Herbst 2010 nicht nur die „üblichen Verdächtigen“ auf die Barrikaden: Ältere Menschen beteiligen sich an den Demonstrationen ebenso wie Eltern mit ihren Kindern. Doch warum ist die Situation in Stuttgart eskaliert, und im Wendland nicht gerade friedlich geblieben? Welche Rolle spielt das Internet bei den Protesten – und wie können Konflikte entstehen? Dieter Rucht, Honorarprofessor am Institut für Soziologie der Freien Universität und Forscher am Wissenschaftszentrum Berlin, untersucht diese Fragen und war bei den Demonstrationen gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 und den Castor-Transport dabei.

fundiert: Herr Rucht, Sie waren in Stuttgart dabei und haben erlebt, wie sich die Situation entwickelt hat. Wenn Sie heute zurückschauen: War es abzusehen, dass der Konflikt eskalieren würde?

Rucht: Nein, denn Stuttgart ist in mancher Hinsicht ein Sonderfall. Es ist überraschend, dass ein Bauprojekt in einer so späten Phase zu solch kontinuierlichem Protest führt. Die sogenannten Montags-Demonstrationen gehen nun ja schon länger als ein Jahr.

fundiert: Wie kann es sein, dass ausgerechnet in einer so wohlsituierten Stadt solche Proteste stattfinden? Oder hätte es den Konflikt in dieser Form auch in einer anderen Stadt geben können?

Rucht: Natürlich hätte es solche Proteste auch in einer anderen Stadt geben können. Vielleicht sogar viel eher in einer anderen Stadt, ich denke da an Städte mit einem relativ linkslastigen und protestfreudigen Milieu wie Hamburg oder Berlin. Das ist in Stuttgart kaum vertreten. Es hängt wohl eher mit der Thematik und dem Ablauf des Planungsprozesses zusammen, dass die Leute so empört sind. Der Bahnhof steht als Symbol für etwas Größeres: Es geht nämlich auch um das Bewahren, um Tradition und Vertrautheit. Und diesen Vorstellungen wird eine Idee von Fortschritt mit Glanz und Schnelligkeit entgegengesetzt. In diesem Sinne ist es eine konservative Vorstellung, den Bahnhof als etwas Gewohntes zu bewahren.

fundiert: Ist das Bild vom Fortschritt durch den neuen Bahnhof dann durch das gewalttätige Vorgehen der Polizei diskreditiert worden?

Rucht: Ich denke, dass die Leute durchaus differenzieren konnten zwischen den Planern des Projektes und dem Einsatz der Polizei als Teil der Exekutive. Die Polizei wird wahrgenommen als ausführendes Organ, das hier etwas auszubaden hat. Ich vermute, dass die Polizei in Stuttgart die Order bekam, ein massives Signal zu setzen. Vielleicht mit der Absicht, die Bösen und die Guten zu trennen. Die Bösen wären dann die Renitenten, die trotzdem weiterprotestieren, und die Guten wären die Braven, die sich abschrecken lassen. Diese Rechnung – egal ob sie nun stimmt oder nicht – ist jedenfalls nicht aufgegangen, vor allem, als das Ausmaß der Polizeigewalt sichtbar wurde.

fundiert: Das Foto des später auf einem Auge erblindeten Demonstranten Dietrich Wagner wurde zum Symbol für die Härte der Polizei. Ist das Bild in seiner Wirkung vergleichbar mit dem Bild des nackten vietnamesischen Mädchens, das 1972 vor dem Napalm- Angriff aus ihrem Dorf flieht, auch wenn beide unterschiedliche Dimensionen haben? Und kann auch das Bild aus Stuttgart vergleichbar stilisiert werden für die Gegner des Protestes?

Rucht: Ich denke schon. Es gibt immer wieder ikonografische Bilder, die in Konflikten für etwas sehr Grundsätzliches stehen können. Das Bild des Verletzten in Stuttgart hat viele Leute schockiert, viel mehr als eine es Beschreibung hätte tun können. Es ist ja oft so, dass sich Bilder viel tiefer einbrennen als Worte. Von der Polizei wurde auch in Stuttgart erwartet, dass sie sich an die Regeln hält. Doch soviel man weiß, hat die Polizei in dieser Situation „unverhältnismäßig“ reagiert, um es sehr vorsichtig auszudrücken. Der Bericht der Untersuchungskomission steht ja noch aus.

fundiert: Konnten die Gegner des Protestes über solche Bilder die Medien instrumentalisieren?

Rucht: Instrumentalisieren wäre zu viel gesagt. Denn das würde bedeuten, dass sich die Medien von Externen als Werkzeug benutzen ließen. Doch diese Macht haben die Protestierenden nicht. Die Medien folgen ihrer eigenen Logik. In der konkreten Situation hat sich die Presse vorwiegend auf die Seite der Protestierenden als Opfer gestellt. Das lag am Ablauf der Dinge und nicht an der Deutung der Gegner von Stuttgart 21. Es hätte ja auch anders sein können, wenn der Verletzte ein Polizist gewesen wäre. Dann wären wohl die Demonstrierenden insgesamt in Misskredit geraten, selbst wenn nur Einzelne an der Tat beteiligt gewesen wären.

fundiert: Hängt die Entwicklung also von Zufällen ab?

Rucht: Kleinere Ereignisse haben in der Regel auch nur kleine Wirkungen. Aber es gibt immer wieder Vorgänge, die außerordentliche Effekte hervorrufen. Und der fragwürdige Polizeieinsatz war ein solcher beschleunigender Moment. In der wissenschaftlichen Debatte sind solche Momente bekannt. Der Afro-Amerikaner Rodney King wurde 1992 in Los Angeles aus dem Auto gezerrt und von Polizisten verprügelt. Der Vorfall wurde zufällig von einem Passanten per Video dokumentiert. Nachdem die Szenen im Fernsehen gelaufen waren, lösten sie eine Revolte aus, die schnell eskalierte. Dabei waren übrigens vor allem die Asiaten die Leidtragenden der Wut der Afro-Amerikaner. Manchmal genügt ein Funke, um solche Konflikte zu entfachen. In Stuttgart war der Funke kleiner, aber gleichwohl nicht ohne Wirkung. Vor dem Polizeieinsatz stand noch einiges auf der Kippe. Viele Leute hatten bis dahin den Konflikt verfolgt, sich aber noch nicht für eine Seite entscheiden. Aber nun gab es eine emotionale Reaktion mit der Zuordnung von Tätern und Opfern. Das Bild des verletzten Mannes hat viele Leute zu einer Parteinahme veranlasst.

fundiert: Was muss zusammenkommen, damit der Funke „überspringt“?

Rucht: Um im Bild zu bleiben: Es muss zunächst Brennmaterial geben. Das „Material“ sind Leute, die unzufrieden sind. Das gilt nicht nur für Stuttgart, sondern ganz allgemein. Unzufriedenheit allein genügt aber nicht. Man kann ja unzufrieden sein, aber sich die Gründe für die desolate Lage selbst zuschreiben. Zum Beispiel dann, wenn man bei den Gründen für Arbeitslosigkeit das Problem bei den eigenen fehlenden Qualifikationen sucht. Beim Protest wird jedoch die Schuld bei anderen gesucht. Zudem muss ein Problem in der Regel eine ganze Gruppe von Leuten betreffen, mit denen man sich solidarisiert. Und es bedarf einiger Menschen, die in der Lage sind, Aktionen zu organisieren. Darüber hinaus muss die Hoffnung bestehen, etwas verändern zu können.

fundiert: Welche Rolle spielen hierbei moderne Kommunikationsmittel? Über das Internet ist es doch leichter, viele Menschen in kurzer Zeit für Protestaktionen zu mobilisieren.

Rucht: Ja, es ist leichter und schneller – aber nur für die Organisation des Protests. Die erste Stufe – ein Problem zu erkennen und dazu eine Meinung zu entwickeln – läuft nach wie vor meist außerhalb des Internets ab, beispielsweise in Gesprächen mit Freunden. Erst im zweiten Schritt, wenn es um die Umsetzung eines Protests geht, spielt das Internet eine Rolle. Hier ist das Netz sehr effektiv, weil sich damit sehr günstig und schnell viele Leute erreichen lassen. Für die Informationsvermittlung und -verbreitung ist das Internet hervorragend, aber es wird völlig überschätzt, wenn es darum geht, Menschen ein Problem überhaupt als Problem begreifbar zu machen.

fundiert: Wie wirkt sich das auf heutige Proteste aus?

Rucht: Obwohl das Internet angeblich ein so wichtiges Mittel der Protestmobilisierung ist, geht die Anzahl von Protesten in den letzten Jahren zurück. Die Annahme, das Internet sei ein Verbreitungsfaktor für Proteste, halte ich für nicht gesichert. Im Gegenteil: Dank Internet kann ich meinen Unmut auch online kundtun, ohne auf die Straße gehen zu müssen. In den vergangenen Monaten gab es zwar wieder vermehrt Proteste, aber es ist noch offen, ob damit ein länger anhaltender Trend eingeleitet wird.

fundiert: Also wird lieber per Mausklick von zuhause demonstriert, als dass man auf die Straße geht?

Rucht: Es gibt Bewegungen, die sich für ihre Aktionen sehr stark auf das Internet stützen. In den Vereinigten Staaten ist das die Non-Profit-Organisation MoveOn, eine „progressive“ politische Bewegung. In Deutschland gibt es nach diesem Vorbild Campact. Diese Organisationen haben zunächst Proteste ausschließlich über das Internet organisiert, zum Beispiel mit Unterschriftenaktionen. Inzwischen sind MoveOn und Campact allerdings dazu übergegangen, solche Aktionen mit Protesten vor Ort zu verbinden. Das ist wenig überraschend, denn die Bequemlichkeit des Internetprotests führt dazu, dass solche Aktionen wenig beeindruckend sind. Auch 40.000 Unterstützer haben hier keine große Wirkung, weil die Beteiligten wissen, wie gering der Aufwand ist. Ist die Anstrengung aber groß, steigt das Ansehen in der Öffentlichkeit und die Wirkung bei den Adressaten. Wenn etwa Milchbauern in Berlin campieren, kann man sich vorstellen, dass dies mit großem Aufwand verbunden ist. Ihr Betrieb muss ja während des Protests weiterlaufen. Denen nimmt man ab, dass sie starke Motive haben, wenn sie solche Opfer bringen. Hier wirkt nicht die Zahl der Beteiligten, sondern die Intensität des Engagements.

fundiert: Funktioniert denn Protest über das Internet nicht?

Rucht: Zunächst schon, aber es ist kein Königsweg. Denn die Gegenseite bedient sich ja auch dieser Mittel. Und wenn beide Seiten mit je 20.000 Unterschriften aufwarten können, gleicht es sich wieder aus.

fundiert: Hat Stuttgart eine Symbolfunktion für die Proteste gegen andere Großprojekte?

Rucht: Sicherlich. Bei den Protesten gegen den Castor- Transport im Wendland wurde auch immer wieder auf Stuttgart Bezug genommen. Ich war dort, um für einen Dokumentarfilm zu drehen. Überall habe ich Schilder mit dem durchgestrichenen Schriftzug Stuttgart 21 gesehen. Auch in Reden wird immer wieder auf Stuttgart Bezug genommen, so zum Beispiel in Berlin bei der Debatte um die Flugrouten rund um den Großflughafen Schönefeld. Stuttgart hat nicht unbedingt eine Vorbildfunktion für die konkreten Formen des Protestes, aber zumindest wird es rhetorisch als ein Präzedenzfall aufgegriffen. Es geht darum, sich an einen eindrucksvollen Protest anzulehnen.

fundiert: Ändert sich neben der Rhetorik auch die Qualität der Proteste?

Rucht: Eher die Quantität als die Qualität. Denn heute sind mehr Leute bereit, sich an Protesten zu beteiligen. Im Wendland gab es Rekordzahlen bei Demonstranten, aber auch bei der Polizei. Auf den letzten Kilometern vor dem Zwischenlager haben Tausende friedlich die Straße blockiert. Es gab eine Absprache mit der Polizei. Sie hat sich ebenso strikt an einen friedlichen Ablauf gehalten wie die Demonstrierenden. Mich hat es sehr beeindruckt, wie respektvoll beide Seiten miteinander umgegangen sind.

fundiert: War es für die Polizei eine Lehre aus Stuttgart, friedlich gegen Demonstranten vorzugehen?

Rucht: Im Wendland gibt es eine lange Tradition des Protests. Die Proteste verliefen hier schon vorher eher friedlich. Zwar gab in der weiteren Vergangenheit wie zuletzt einige Ausschreitungen, aber die blieben sehr begrenzt. Dabei war das Konfliktpotenzial dieses Mal sehr groß, weil ein Teil der Demonstranten das Schottern, also das Entfernen der Schottersteine aus dem Gleisbett, aktiv beworben hatten. Das war eine durchaus riskante Protestform, die teilweise zu Gewalt führte, aber insgesamt nicht aus dem Ruder lief.

fundiert: Heiner Geißler hat Konflikt-Moderation als gute Methode beschrieben, um eine Konfrontation zu vermeiden. Kann das ein Modell für andere Großprojekte sein?

Rucht: So einfach ist das nicht. In Stuttgart kam die Moderation zu spät. Die Schlichtung funktioniert nur bei manchen Sachlagen und ist in anderen Fällen sinnlos. Beim G8-Gipfel in Heiligendamm hätten sich beide Seiten nicht auf eine Schlichtung eingelassen. Und in Stuttgart wird es in der Kernfrage keinen Kompromiss geben können. Aber manchmal können Schlichtungen dazu führen, ein Projekt zu verändern oder Ausgleichsmaßnahmen zu schaffen. Falsch wäre allerdings die Annahme, man könne das Instrument der Schlichtung auf jegliche Konfliktsituation anwenden.

fundiert: Sie haben in Ihren Untersuchungen festgestellt, dass sich politisches Engagement der Bürger von Parteien und großen Verbänden abwendet – und sich punktuell oft auf lokale politische Vorgänge verlagert. Aber zeigt Stuttgart nicht das Gegenteil? Schließlich profitieren gerade „Die Grünen“.

Rucht: Aber nur von Leuten, die ohnehin wählen gehen wollen. Ob die Parteien insgesamt von den Protesten profitieren, ist nicht ausgemacht. Immerhin kam bei einer Befragung in Stuttgart heraus, dass die Wahlbeteiligung unter den Protestteilnehmern höher war im Durchschnitt der bundesdeutschen Bevölkerung – und auch die Wahlabsicht bleibt unverändert und überdurchschnittlich hoch. Trotz ihres Unmuts wollen die Demonstrierenden weiterhin wählen gehen, aber viele wollen nun ihr Kreuz woanders setzen als in der Vergangenheit.

fundiert: Also bekommen „Die Grünen“ mehr Wähler, aber nicht mehr Mitglieder?

Rucht: Derzeit bekommen sie auch etwas mehr Mitglieder. Aber aus solch einer Bewegung werden nur einige wenige in einer Partei landen.