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Die neue Arbeiterbewegung

Büros machen mobil

08.12.2010

Büros machen mobil.

Büros machen mobil.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Idee des Kreuzberger betahauses fand auch anderswo Nachahmer, etwa in Hamburg.

Die Idee des Kreuzberger betahauses fand auch anderswo Nachahmer, etwa in Hamburg.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Madeleine von Mohl, eine der sechs Gründer des betahauses: „Für die Arbeit, wie wir sie kennen, braucht man kein Büro mehr“.

Madeleine von Mohl, eine der sechs Gründer des betahauses: „Für die Arbeit, wie wir sie kennen, braucht man kein Büro mehr“.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Von Kontrolle durch den Chef ist beim „Coworking-Space“ nicht viel zu merken.

Von Kontrolle durch den Chef ist beim „Coworking-Space“ nicht viel zu merken.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Früher tourte Geertje Gückel als Reiseleiterin durch Europa, heute zeigt sie Interessenten das betahaus.

Früher tourte Geertje Gückel als Reiseleiterin durch Europa, heute zeigt sie Interessenten das betahaus.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Der Eingangsbereich des betahauses ist Treffpunkt, Café und Arbeitsplatz zugleich.

Der Eingangsbereich des betahauses ist Treffpunkt, Café und Arbeitsplatz zugleich.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Was Mobilität, Dynamik und Flexibilisierung bedeuten, hat heute fast jeder Arbeitnehmer verinnerlicht: In kaum einem gesellschaftlichen Bereich gab es in den vergangenen Jahren so viel Bewegung wie in der Arbeitswelt. Flexible Arbeitszeiten, das Ende der Festanstellung und ein Heer von Job-Nomaden – das sind die negativen Assoziationen, die damit verbunden sind. Dass die neue Mobilität aber mindestens ebenso viele positive Seiten haben kann, wissen Forscherinnen und Forscher an der School of Business and Economics der Freien Universität Berlin – eine von ihnen ist die Juniorprofessorin Jana Costas.

Wer das betahaus betritt, merkt sofort: Die Zukunft der Arbeit riecht gut, nach frischem Milchkaffee und warmem Kuchen. An den vielen hellen Holztischen, die überall im Raum verteilt stehen, sitzen junge Frauen und Männer an ihren Laptops und unterhalten sich auf Portugiesisch, Englisch oder Spanisch über ihre Projekte. Hier, im großen Café am Eingang des betahauses, findet jeden Donnerstag das sogenannte Betafrühstück statt. Wer will, kann vorbeikommen, seine Arbeit mitbringen und dabei frühstücken.

Beschallt wird alles aus den Boxen hoch oben an der Wand des Fabrikgebäudes, entspannte elektronische Musik als Soundtrack des Arbeitsalltags. Auf mehr als 1000 Quadratmetern der alten Fabrikhalle, gebaut zu Glanzzeiten der Industrialisierung, arbeiten heute etwa 120 kreative Freiberufler einer Generation, für die ein Arbeitsplatz vor allem eines sein muss: flexibel. So wie die meisten Architekten, Grafiker, Fotografen, Designer oder Marketingprofis es beruflich auch sein müssen.

Das Ideal der neuen Arbeit: ständig unterwegs

Im Büro von Juniorprofessorin Jana Costas hängen, anders als im betahaus, keine quietschbunten Lampen von der Decke, und wenn sie einen Milchkaffee möchte, muss sie dafür einen kleinen Spaziergang zur Mensa unternehmen. Die Wirtschaftswissenschaftlerin lehrt und forscht an der Freien Universität Berlin zu Organisationskultur, Identität und wissensintensiven Unternehmen. Die vergangenen Jahre verbrachte sie an der University of Cambridge und der London School of Economics, wo sie sich mit den Phänomenen der modernen Arbeitswelt beschäftigte. „Dieses Ideal von mobiler Arbeit und das ständige ‚Unterwegs-Sein’ – das ist ein Phänomen, dass es so weder in den Zeiten der Industrialisierung, noch bis in die späten achtziger-Jahre gegeben hat“, sagt sie. Warum der mobile Arbeiter mit Laptop, Blackberry und einem üppigen Meilenkonto heute oft ein Vorbild ist, das erforschte sie bei Studien zur Arbeitswelt von internationalen Unternehmensberatern. Dass Mobilität auch in anderen Berufsgruppen an Bedeutung gewinne, merke man zum Beispiel schon an der Zunahme von Großraumbüros. „Auch hier werden Grenzen überwunden – zum Beispiel die räumlichen Grenzen zwischen Beschäftigten verschiedener Hierarchieebenen“, sagt Costas.

Wertschöpfung, weit weg vom Büro

Im betahaus steht Geertje Gückel mit einem Klemmbrett in der Hand, umgeben von einem Dutzend Menschen, und begrüßt alle mit einem gut gelaunten „Hallo“. Früher tourte sie als Chefreiseleiterin durch Europa, heute zeigt sie Interessenten das betahaus. Wer hier arbeiten will, kann entweder einen festen Arbeitsplatz mit eigenem Büroschlüssel mieten – oder sich für eine flexible Variante entscheiden, bei der man sich allerdings jeden Tag einen neuen Schreibtisch suchen muss. Ein grüner Punkt auf dem Tisch signalisiert: Dieser Platz ist frei. Wer seinen Platz nur ab und zu braucht, kann eine Zwölferkarte für 79 Euro kaufen, das Monatsticket kostet 129 Euro, und wer möchte, kann sein Büro nach dem Baukastenprinzip erweitern: Für ein Treffen mit Geschäftskunden etwa kann man einen Konferenzraum dazumieten, oder ein eigenes Postfach samt Adresse. Mit dem klassischen Büro hat das betahaus kaum noch etwas zu tun.

Madleine von Mohl ist eine von sechs jungen Gründern, die vor etwa zwei Jahren die Idee für das betahaus entwickelt haben. „Heute arbeitet man überall – in Bibliotheken, in Cafés, immer hat man sein Notebook dabei. Für die Arbeit, wie wir sie kennen, braucht man kein Büro mehr“, sagt sie. Wertschöpfung findet in der modernen Arbeitswelt nicht mehr nur an einem Ort statt, sondern an vielen, so lautet das Credo der Gründer. Mobil sind die Freiberufler nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich – auch, was die selbstbestimmte Wahl von Arbeitskollegen angeht. „Hier lernt man schnell Leute kennen, man erfährt etwas über ihre Arbeit und ihre Projekte und findet eigentlich für jeden Job schnell ein Team“, sagt von Mohl. Ein Gegensatz zur oft schwierigen Situation von vielen Kreativen auf dem freien Arbeitsmarkt, wo der Konkurrenzgedanke und die Ellenbogen-Mentalität dominierten.

Das Konzept des betahauses sollte auch dazu ein Gegenentwurf sein: „Wir haben uns überlegt: Wie müsste ein Arbeitsumfeld aussehen, in dem der freie Ideenaustausch unter Kreativen und Freiberuflern funktioniert, wo man sich über Projekte unterhält und sich gegenseitig Feedback gibt – ohne die Angst, dass einem jemand etwas wegnehmen könnte.“ „Coworking“ heißt dieses Prinzip, dass der amerikanische Programmierer Brad Neuberg vor fünf Jahren so benannte. Das betahaus ist nicht nur der erste sogenannte „Coworking-Space“ in Europa, sondern mittlerweile auch der größte: Ein offener, digital vernetzter und kollaborativer Arbeitsort, der zwar zeitlich wie auch räumlich flexibel ist, aber einen Rahmen für Netzwerke vorgibt.

Google überlasst nichts dem Zufall

Die Mobilität von Ideen, wie sie Freiberufler beim Coworking praktizieren, wird auch in großen Unternehmen gefördert. Da gerade in wissensintensiven Branchen, in denen die Innovationen seiner Mitarbeiter als das Kapital des Unternehmens angesehen werden, überlässt man das Ganze jedoch nicht dem Zufall. Ein prominentes Beispiel dafür sei die Unternehmenskultur von Google, erzählt Jana Costas. So werde dort beim Ausbau der Kantinen genau darauf geachtet, dass die Schlangen vor der Essensausgabe immer genau so lang sind, um den Mitarbeitern Zeit für einen kurzen gedanklichen Austausch und ein Kennenlernen zu ermöglichen. „Hier gibt es also einen Social-Engineering Ansatz, der ganz bewusst umgesetzt wird.“ Im Unterschied zum betahaus, in dem es keine Hierarchien gibt.

Paradoxerweise ist es jedoch gerade dem klassischen Büro zu verdanken, dass es heute überhaupt Arbeitsformen wie Coworking gibt. „Das Wort Bürokratie erweckt ja kaum positive Assoziationen“, sagt Jana Costas. Der Nine-to-Five-Job in hässlichen Büros, der Zwang zu Krawatte und Kostüm, die Kontrolle durch den Chef – all das ist heute ein Negativbild der Arbeit. Im Vergleich dazu erscheint die schöne neue Welt der freiberuflichen Tätigkeiten durchaus als attraktive Alternative, auch wenn sie wenig Sicherheiten böte, sagt Costas. Dass es in Zukunft ohnehin immer weniger feste Arbeitsplätze geben wird, zeigen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Mittlerweile ist jedes zehnte Arbeitsverhältnis befristet, bei Neueinstellungen sind es sogar die Hälfte der Jobs. Ein denkwürdiger Rekord: noch nie gab es so viele Zeitverträge. Trotzdem werde diese Entwicklung in vielen Branchen nicht als Bedrohung wahrgenommen.

„Heute wird es oft so dargestellt, dass die Arbeitswelt der Industrialisierung überwunden ist und die kreative Arbeit in Zukunft immer wichtiger wird – diese wird mit Vorstellungen von Freiheit positiv verknüpft.“ Individualität und Selbstentfaltung sehen Soziologen wie Luc Boltanski und Ève Chiapello deshalb auch als Teil des „neuen Geistes des Kapitalismus“. „Die Kritik an den klassischen Arbeitsverhältnissen ist heute interessanterweise in den Diskurs über die Arbeitswelt eingebunden“, sagt Jana Costas. Auch das sei ein Grund, warum die hyperflexible Arbeitswelt als positiver Lebensstil wahrgenommen werde. Im betahaus nimmt man sich die Freiheit – und macht das Beste daraus, wie Madleine von Mohl findet.

Die Grenzen der Mobilität

Die Idee des betahauses fand auch bei Kreativen in anderen Städten so viel Anklang, dass es bereits ein zweites betahaus in Hamburg gibt. Die nächsten sollen demnächst in Zürich, Lissabon oder Köln entstehen. Von Mohl arbeitet deshalb die ganze Woche, eigentlich immer. Sich zu beschweren, käme ihr jedoch nie in den Sinn. „Mal ehrlich“, sagt sie und sieht sich im Café um, „sieht das hier wie harte Arbeit aus?“ Erst vor kurzem war eine Delegation der Shanghaier Stadtverwaltung im betahaus. „Das war sehr amüsant: Alle waren sehr interessiert am Coworking. Anschließend hat man uns angeboten, dass wir doch ein betahaus in Shanghai eröffnen sollen. Aber wir haben im Moment für so etwas gar keine Kapazitäten!“ Oft würden sie gefragt, ob sie nicht einfach ein Franchise-System entwerfen könnten. Doch von Mohl winkt ab. Das sei Quatsch. Ein betahaus müsse immer authentisch sein, Lokalbezug haben und irgendwie stimmig sein. Die Raumgestaltung zum Beispiel: Die Lampen an der Decke seien mal Party-Deko gewesen, jetzt hingen sie eben immer noch dort rum, weil alle fanden, das sehe gut aus. Typisch betahaus, findet Madleine von Mohl. „Aber wie soll man das denn bitte als Corporate Identity aufschreiben?“

Wo bin ich eigentlich?

Aber auch mobile Arbeiter brauchen einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen. Dass es eben nicht egal ist, wo man seinen Laptop aufklappt, das konnte Jana Costas bei ihrer Untersuchung der Arbeitswelt von Unternehmensberatern feststellen. Beruflich seien sie ständig unterwegs und lebten deshalb häufig eher in Hotels als in den eigenen vier Wänden. Die räumliche Mobilität könne aber auch negative Folgen für das Individuum haben. „Diese Erfahrung kann ein Gefühl der Leere und der Verunsicherung auslösen“, weiß Costas, die für ihre Arbeit teilnehmende Beobachtungen und qualitative Interviews mit Top-Beratern durchgeführt hat. Die ständige Frage nach dem ‚Wo bin ich hier eigentlich?’ entziehe einem auch die Stabilität. Wegen dieser Desorientierung habe der französische Anthropologe Marc Augé Hotels, Flughäfen oder Bahnhöfe deshalb auch als Nicht-Orte bezeichnet: mono-funktional genutzte Flächen, die alle Orte des permanenten Transits sind. Im Unterschied zu einem echten Ort hätten Nicht-Orte keine Geschichte und keine Identität. Welche Auswirkung sie auf Dauer auf Menschen haben, konnte Jana Costas in ihren Untersuchungen feststellen. Die Erfahrung einer Desorientierung und Unsicherheit, die diese Top-Berater und „Knowledge Worker“ gemacht hatten, ähnelte auf einmal der Erfahrung von Menschen aus unteren sozialen Schichten – ein gewisser Moment der Angleichung, der auch mit Mobilität assoziiert ist.

Zurück in die Zukunft

Dass das Prinzip des Coworkings die ideale Arbeitswelt für alle ist, daran glaubt Madleine von Mohl nicht. Dazu seien das Konzept und seine Möglichkeiten noch viel zu sehr in Bewegung. „Ich glaube, wir erleben gerade eine neue Phase, was das Konzept von Coworking und mobiler Arbeit angeht“, glaubt Madleine von Mohl. Und der Trend gehe in eine neue Richtung, zurück zu festen Arbeitszeiten. Neulich wollten sie den Mietern mit zeitlich begrenzten Tarifen anbieten, ihre Plätze bei Bedarf länger als zehn Stunden zu nutzen. Die Reaktionen darauf seien eindeutig gewesen, erzählt von Mohl: „Mach das bloß nicht, hat ein Informatiker zu mir gesagt. ‚So weiß ich wenigstens, wann ich nach Hause gehen kann’.“ Die völlige Entgrenzung der Arbeit – auch sie hat ihre Grenzen.