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Möglichkeitsräume der Religion

Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft seit den 1970er Jahren

08.12.2009

Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft seit den 1970er Jahren.

Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft seit den 1970er Jahren.
Bildquelle: photocase/Gurkina http://www.photocase.de/foto/107176-stock-photo-mauer-christentum-religion-glaube-retro-jesus-christus-moral

Immer öfter hörte man in den letzten Jahren das Schlagwort von der „Renaissance der Religion“. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien das Gegenteil der Fall zu sein: Die alltagsprägende Kraft von Religion und Kirche ließ spürbar nach. Religiosität grenzte sich in Sonderbezirken ab und wurde immer mehr zur bloßen Privatsache. Die Mitgliederzahlen der Kirchen bröckelten stetig oder – wie in der DDR unter politischem Druck – dramatisch und wohl unumkehrbar. Die europäischen Gesellschaften, und mit ihnen beide deutsche Staaten auf je eigene Weise, sahen die grundlegende Vorstellung von einer modernen „Säkularisierung“ bestätigt, die spätestens seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts Glauben durch Wissen verdrängte, Mythos durch Rationalität, sakrale Gemeinschaftsbindung durch radikalen Individualismus.

Zuerst ist diese Perspektive gewissermaßen von außen problematisch geworden. Die Konfrontation mit dem Islam und seinen Frömmigkeitsstilen, gewiss auch mit seinen politischen Ansprüchen und seinen fanatisierten, im Extremfall gewaltbereiten Varianten ist dabei an erster Stelle zu nennen. Dabei wurde allmählich klar, dass religiöser Fundamentalismus nicht dem Islam vorbehalten ist, sondern Parallelen im Christentum des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Doch geht die religiöse Prägung der US-amerikanischen Gesellschaft, die dabei mit Recht in den Sinn kommt, im Fundamentalismus längst nicht auf, sondern hat sich weithin als eine den sozialen Alltag konstituierende Macht etabliert, als primärer Faktor von Lebensführung und sozialen Netzwerken. Damit konnte die Säkularisierung bereits nicht mehr als westlicher, geschweige denn universeller Normalfall gelten.

Der europäische Sonderweg in einer globalen Arena

Die Rede war öfter von einem europäischen „Sonderweg“ in einer globalen Arena, in der Religion in beinahe allen anderen Kontinenten und Kulturen eine tiefe Verwurzelung in Glaubensüberzeugungen und Lebensstilen behält ebenso wie eine enge Verflechtung mit der öffentlichen Sphäre bewahrt hatte. Sehr schnell verdichteten sich dann aber – spätestens in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre – die Anzeichen dafür, dass selbst diese Annahme von einem europäischen Raum der Säkularität nicht mehr zutraf. In der Überwindung der kommunistischen Regime spielte die Politik des Glaubens und der religiösen Vernetzung eine ganz entscheidende Rolle, sei es in einer katholischen Variante wie in Polen oder in einer überwiegend protestantischen wie in der DDR. In Westeuropa wiederum war es die verspätete Entdeckung, dass Millionen von Migranten – in Frankreich und Großbritannien ebenso wie in der Bundesrepublik – auch ihre Religion, insbesondere den Islam, mitgebracht hatten. Und religiöse Identität ging in der neuen Umgebung nicht verloren, sondern verstärkte sich häufig als Teil der kulturellen Selbstbehauptung: eigentlich für niemanden überraschend, der sich auch nur oberflächlich mit historischen Beispielen von Migration beschäftigt hat.

Religion mit "eigenen" kulturellen Traditionen

Die vorerst letzte Stufe dieser Erfahrungen lag in der Entdeckung, dass Religion auch in den „eigenen“ kulturellen Traditionen West- und Mitteleuropas nicht allmählich verschwand oder in musealer Erinnerung erstarrte, sondern eine neue Dynamik in kulturellen Konflikten und eine neue Präsenz als gesellschaftliche Deutungsmacht gewann. So war in der Bundesrepublik besonders auffällig, mit welcher Eindringlichkeit religiöse Argumente in den ethischen Grundsatzdebattendes letzten Jahrzehnts verwendet wurden. Aber darauf lässt sich die neue Überlagerung von Religion und Öffentlichkeit nicht reduzieren. Schon vor drei Jahrzehnten war die Formierung der „neuen sozialen Bewegungen“in der Bundesrepublik, von der Umwelt- und Friedensbewegung bis zur Partei „Die Grünen“, ganz vehement ebenso von religiösen Impulsen getragen wie von kirchlichen Netzwerken befördert worden. Und seit einiger Zeit – wieder ein ganz anderes Beispiel – erleben Schulen in kirchlicher Trägerschaft einen Ansturm des Interesses, und neue kirchliche Schulen werden in Elterninitiative gegründet. Der spanische ReligionssoziologeJosé Casanova hat solche Phänomene frühzeitig analysiert und als Typus einer neuen „public religion“, einer neuen öffentlichen Religion gekennzeichnet, die sich fast überall in Europa nachweisen lässt.

Renaissance der Religion in Deutschland

In der Tat manifestiert sich die „Renaissance der Religion“in Deutschland und Europa nicht in einer massenhaften Frömmigkeitsbewegung, nicht in rasant wieder ansteigendem Kirchenbesuch. Ihr gemeinsamer Nenner sind vielmehr die neuen Formen der Überlagerungvon Religion und Öffentlichkeit. Sie lassen sich aber nicht überwiegend als ein Ausgreifen der Religion auf die Politik interpretieren, im Sinne eines Versuches der Auflösung von Grenzen des säkularen Staates, die über viele Jahrhunderte mühsam in die Beziehungen von Kirche und Staat eingezogen wurden. Insofern ist der Begriff der „Renaissance“ ohnehin missverständlich, weil es sich nicht um die „Wiedergeburt“ von Vergangenem, nicht um einen Rückfall in frühere Epochen handelt. Andererseits: Er ist prägnant und nicht falsch;schließlich war auch die Renaissance des 15. Jahrhunderts kein „Roll-back“ in die Antike,sondern der Beginn der Moderne. Auffällig ist vielmehr die starke Nachfrage nach Religion in der Öffentlichkeit, in säkularen Wertekonflikten, in der Suche nach kultureller Orientierung, auch in der praktischen Gestaltung sozialer Netzwerke von Solidarität und Gemeinschaft. Man kann geradezu von einem neuen Religionsbedarf moderner Gesellschaften sprechen.

Die 1970er Jahre als Jahrzehnt des Umbruchs

Was sind die Ursachen dafür? Historisch gesehen, führen die genannten Beispiele, auch in globaler Perspektive, immer wieder in die siebziger und frühen achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück: zur Islamischen Revolution im Iran 1979 ebenso wie zur Blüte von religiösem Protest und Dissens in Ost und West um 1980. Die zeitgeschichtliche Forschung hat die 1970er Jahre jüngst sehr deutlich als ein Jahrzehnt des Umbruchs interpretiert, in dem sich grundlegende Orientierungen sehr viel deutlicher verschoben als in den spektakulären1960er Jahren des Protests und der Rebellion. Die Basiserfahrung des Umbruchs liegt am Ende der großen Nachkriegsprosperität seit 1945/1948, die in der ersten Ölkrise von 1973/1974 schlagartig zu Bewusstsein kam. Schon ein Jahr früher hatte der „Club of Rome“ von den „Grenzen des Wachstums“ gesprochen.

Das gesamte kulturelle Koordinatensystem der Modernetransformierte sich in der Folgezeit grundlegend. Der „Fortschritt“ war nicht mehr umstandslos positivbesetzt; die politische Linke definierte sich nicht mehrdurch Ziele wie Wachstum und Technik, sondern durchden Zweifel daran. Man spricht jetzt oft vom Ende der„Hochmoderne“, die mit ihrer radikalen Zukunfts und Fortschrittseuphorie, Wissenschafts- und Machbarkeitsgläubigkeit, mit ihrem linearen Universalismusdie Zeit zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundertund etwa 1970 bestimmt habe – in kapitalistischenebenso wie in kommunistischen Varianten, in brutalenrechten und linken Diktaturen ebenso wie in liberalen Demokratien.

Zweifel am reinen Fortschrittsglauben

In diesem Umbruch hat sich auch der soziokulturelle Ort von Religion in der Moderne verändert. Knapp gesagt: Die Umbrüche seit den 1970er Jahren haben neue Möglichkeitsräume für Religion entstehen lassen. Das gilt in mehrfacher Hinsicht. An die Stelle der Überzeugung, der Mensch könne sich die Welt immer besser undschließlich völlig verfügbar machen, könne alles um desFortschritts willen erreichen, sind Zweifel und Gegenkräftegetreten. Diese Zweifel müssen sich nicht zwangsläufig religiös artikulieren. Aber sie besitzen offenbar eine hohe Affinität zu religiösen Denkfiguren. Nicht zufällighat die Rede von der „Bewahrungder Schöpfung“ einen so zentralen Platz im politischen Diskurs besetzt.

Die ökologische Umpolung des Weltbilds der Moderne hat der Vorstellung, dass der Maßstab menschlichen Handelns und menschlicher Verantwortlichkeit nur der Mensch sei, den Boden entzogen. Ähnliches gilt aber auch für die innersten Bezirke menschlicher Existenz: die Fragen nach dessen Anfang und Ende, die Gegenstand bioethischer Debatten geworden sind. Sie haben nicht nur dem Machbarkeitsdenken Grenzen aufgezeigt, sondern auch einem szientifischen Absolutismus, der vorgab, allemöglichen Fragen nach naturwissenschaftlichen Rationalitätskriterien entscheiden zu können. Der Philosoph Jürgen Habermas hat in den letzten Jahren, obwohl gar nicht von einer religionsfreundlichen Positionher kommend, sehr eindrücklich gezeigt, dass keine Autobahn der Moderne vom Glauben zum Wissen führt, sondern dass Glauben und Wissen zwei verschiedene Formen des menschlichen Geistes sind, die in ein neues Verhältnis zueinander gebracht werden. Aber auch in sehr praktischer Hinsicht haben sich die Möglichkeitsräume von Religion erweitert. Von den neuen Quellen und Artikulationsformen sozialer Bewegung und politischen Protests war schon die Rede: Sie sind, wiederum in Ost wie West, ein Zeichen für die Erschöpfung weltlicher Ideologien, die ja selbst – wie zumal der Marxismus-Leninismus – als notdürftige säkularisierte politische Theologien erst entstanden sind. In den dadurch frei werdenden Raum ist immer wieder die Religion eingetreten; zum Guten wie zum Schlechten; mit durchaus ambivalenten Folgen.

Weltliche Ideologien sind erschöpft

Fast immer artikulierte sich in diesen Bewegungen auch eine Sehnsucht nach Gemeinschaft, die dem radikalisierten Individualismus der aufklärerischen Hochmoderne entgegengehalten wurde. Hinter Individualisierung und „Emanzipation“ – dem Schlachtruf der sechziger und frühen 1970er Jahre– führt kein Weg zurück. Aber immer häufiger begann man wenige Jahre später von der Entdeckung des „Gemeinsinns“ zu sprechen, von der „Bürgergesellschaft“, die nicht nur durch den Staat zusammengehalten wird, sondern auf Empathie und Solidarität beruht. Ralf Dahrendorf, der in diesem Jahr verstorbene große Soziologe, hatte in den sechziger Jahren vor allem Konflikt, Freiheit und Individualität gefordert: Denn das war es, woran es den Deutschen nicht nur nach seinem Urteil besonders mangelte. 1979 führte er dagegen zumersten Mal den Begriff der „Ligaturen“ ein: Bindekräfte, derer die moderne Gesellschaft gleichermaßen bedürfe; und dazu zählte er auch die Religion.

Interesse an Religion und Konjunktur der Bürgergesellschaft

Insofern laufen das neue Interesse an Religion, zumal ihrer öffentlichen Rolle, und die Konjunktur der Bürgergesellschaft nicht zufällig parallel; sie haben vielmehr gemeinsame Wurzeln in den Umbrüchen und Neuorientierungen seit den 1970er Jahren. Das spricht zugleich dafür, dass es sich bei beidem nicht um kurzfristige Modeerscheinungen, um Oberflächenwellen des Feuilletons handelt. So wird die Frage nach der Überlappung von Religion und Bürgergesellschaft besonders interessant. Welche Ressourcen, welche Leistungen stellen religiöse Überzeugungen, Praktiken und Institutionen für eine funktionierende Bürgergesellschaft zur Verfügung? Die schon erwähnte „Sprachfähigkeit“ in Orientierungskonflikten zählt sicher dazu, aber an erster Stelle wird man doch an das dichte Netzwerk der Institutionen sozialer Verpflichtung und Solidarität denken, das in Deutschland aus historischen Gründen überwiegend von den christlichen Kirchen und den ihnen verbundenen diakonischen Einrichtungen getragen wird. Das dichte soziale Netzwerk des Judentums ist seit 1933 gewaltsam zerschlagen und vernichtet worden. Der Aufbau von bürgerschaftlichen Institutionen im europäischen Islam zählt zu den spannendsten Fragen gesellschaftlicher Entwicklung der Gegenwart.

Historische Strukturen der Solidarität schrumpfen

In den letzten drei Jahrzehnten haben sich die Formen bürgerschaftlichen oder ehrenamtlichen Engagements erweitert. Lokale Bürgerinitiativen oder global tätige Nichtregierungsorganisationen, in denen vor allem jüngere und überdurchschnittlich gebildete Menschen tätig werden, sind in dieser Zeit eigentlich erst erfunden worden. Andererseits sind historisch gewachsene Strukturen der Solidarität und des Engagements geschrumpft, besonders das seit dem 19. Jahrhundert aufgebaute Netzwerk der Arbeiterbewegung, das geradezu ein Arsenal des sozialen Zusammenhalts und der Unterstützung in allen Lebenssituationen anbot und infolge sozialen Strukturwandels und Milieu-Zerfalls heute nur noch in Restbeständen existiert. Verglichen damit hat sich das religiöse Netzwerk, dessen Aufstieg dem der Arbeiterbewegung in der Zeit der Industrialisierung und Urbanisierung parallel lief, noch als erstaunlich lebensfähig erwiesen. Zu ihm gehören Jugendtreffs und Bildungsstätten, soziale Beratungsstellen und Krankenhäuser; in vieler Hinsicht auch die Gemeindezentren, Pfarrhäuser und Kirchen, in denen ja nicht nur gepredigt wird, sondern die als Brennpunkte sozialer Verknüpfung dienen; man könnte sagen: als Umschlagplätze des „Sozialkapitals“, an denen der Zusammenhalt der Gesellschaft täglich praktiziert und gesichert wird. In empirischen Untersuchungen ist hinreichend nachgewiesen, dass Kirchenbindung und bürgerschaftliches Engagement eng miteinander verknüpft sind. Und man weiß, dass die Spendenbereitschaft von kirchlich gebundenen Bürgern doppelt so hoch ist wie bei den kirchlich nicht gebundenen. Wer aus der Kirche ausgetreten ist, „spart“ zudem die Kirchensteuer, die zu einem erheblichen Teil als Investition in soziales und kulturelles Engagement verwendet wird, von dem nicht nur die Kirchenmitglieder profitieren.

Zum Dritte-Welt-Basar oder ins Einkaufszentrum?

Auch dieses Milieu ist von Erosion und Überalterung betroffen und bekommt die Alternativangebote einer individualisierten Konsumgesellschaft zu spüren: Soll man auf den Dritte-Welt-Basar oder ins Einkaufszentrum gehen? Verbringt man Zeit mit PC-Spielen oder mit der freiwilligen Betreuung von Alten, Kranken, sozial Schwachen? Aber selbst da, wo bürgerschaftliches Engagement aus Glaubensüberzeugung und moralischer Verpflichtung weiterhin generiert wird, kann es zweischneidig sein. Das neue Interesse an den konfessionellen Schulen ist ein Beispiel dafür: Vielfach aus Elterninitiative entstanden und mit einem „Mehrwert“ des persönlichen Einsatzes und der ethischen Wertorientierung versehen, drohen sie andererseits eine soziale Spaltung des Bildungssystems zu vertiefen. Denn es ist vor allem die gebildete, wertorientierte, gut verdienende bürgerliche Mittelklasse, die sich hier für ihre eigenen Überzeugungen und die Chancen ihrer Kinder engagiert. So bleibt die Entwicklung von Religion und Bürgergesellschaft eine spannende und spannungsvolle Arena der Praxis ebenso wie ein Feld der Forschung, auf dem sich viele Disziplinen, von der Geschichte bis zur Soziologie, von der Philosophie bis zur Religionswissenschaft und Theologie produktiv begegnen können.

Weitere Informationen

Univ.-Prof. Dr. Paul Nolte:

Paul Nolte, Jahrgang 1963, lehrt seit 2005 Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Er leitet den Masterstudiengang „Public History“ und ist Hauptherausgeber der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“. Buchveröffentlichungen unter anderem „Die Ordnung der deutschen Gesellschaft“ (2000), „Generation Reform“ (2004), „Riskante Moderne“ (2006), „Der Wissenschaftsmacher“ (2008) und „Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?“ (2009). Seit September 2009 ist Paul Nolte Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin.