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Interview mit Stanislaw Karol Kubicki: Lehrstück für die Freiheit

Wie Studenten 1948 aus Protest gegen die SED-Bildungspolitik mithelfen, eine eigene, eine freie Universität aufzubauen.

02.12.2008

Wie Studenten 1948 aus Protest gegen die SED-Bildungspolitik mithelfen, eine eigene, eine freie Universität aufzubauen.

Wie Studenten 1948 aus Protest gegen die SED-Bildungspolitik mithelfen, eine eigene, eine freie Universität aufzubauen.
Bildquelle: Landesbildstelle Berlin

Wer eine Ausgabe der Studentenzeitung Colloqium ergattern wollte, hier das Heft 1 von 1954, musste sich sputen: Nach einem Tag war sie meist vergriffen.

Wer eine Ausgabe der Studentenzeitung Colloqium ergattern wollte, hier das Heft 1 von 1954, musste sich sputen: Nach einem Tag war sie meist vergriffen.
Bildquelle: Universitätsarchiv, Publikationssammlung, Freien Universität Berlin.

So sah es aus, das Immatrikulationsbüro der Freien Universität Berlin im Jahre 1948.

So sah es aus, das Immatrikulationsbüro der Freien Universität Berlin im Jahre 1948.
Bildquelle: Foto-Sammlung/Universitätsarchiv Freie Universität

Am 4. Dezember 1948 findet die offizielle Eröffnungsfeier der Freien Universität Berlin im Titania-Palast statt.

Am 4. Dezember 1948 findet die offizielle Eröffnungsfeier der Freien Universität Berlin im Titania-Palast statt.
Bildquelle: Landesbildstelle Berlin

Um als Student Geld verdienen zu können, wurde die Arbeitsvermittlung „Heinzelmännchen“ gegründet. Teppichklopfen gehörte zu den typischen Arbeiten.

Um als Student Geld verdienen zu können, wurde die Arbeitsvermittlung „Heinzelmännchen“ gegründet. Teppichklopfen gehörte zu den typischen Arbeiten.
Bildquelle: Sächsische Landesbibliothek, Fritz Eschen

Karol Kubicki (links) erhielt die Matrikelnummer eins, Helmut Coper die Nummer zwei. Die Rangfolge hatte 1948 ein Münzwurf entschieden.

Karol Kubicki (links) erhielt die Matrikelnummer eins, Helmut Coper die Nummer zwei. Die Rangfolge hatte 1948 ein Münzwurf entschieden.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Gegen Ende der 1940er Jahre, nach Krieg und Gefangenschaft, steuert sein Leben auf einen Neuanfang zu: Stanislaw Karol Kubicki ist gerade 20 Jahre alt geworden und will Medizin studieren an der Berliner Universität Unter den Linden. Seiner akademischen Karriere steht eigentlich nichts im Weg. Das Problem: Sowjets und SED halten nicht viel von freier Lehre und Forschung im Ostsektor der Stadt. Kritische Studenten werden relegiert und verhaftet. Kubicki und seine Freunde protestieren – erfolglos. Sie überzeugen Bürgermeister und amerikanische Alliierte von einem wahnwitzigen Plan: eine eigene, eine freie Universität zu gründen. Kubicki immatrikuliert sich als erster Student. 60 Jahre später spricht er über Aufbruch und Hoffnung und darüber, wie es ist, eine Universität mitaufzubauen, der die Freiheit ihren Namen gab.

fundiert: Herr Kubicki, Sie haben einmal gesagt, Sie hätten als Student nie eine Vorlesung verpasst. Waren Sie ein Streber?

Kubicki: Streber? Von wegen! Ich war nichts anderes als wissensdurstig. Seit meinem 15. Lebensjahr wollte ich Medizin studieren. Damals hatte mich mein Schwager, bei dem ich in Heidelberg meine Sommerferien verbrachte, in eine Vorlesung mitgenommen, und ich war begeistert. Nach Krieg und Gefangenschaft war das Medizinstudium für mich die Erfüllung meiner Wünsche.

fundiert: Sie galten als überaus fleißig ...

Kubicki: Nun, ich war eben ziemlich wissensdurstig. Da kommt die Selbstdisziplin von alleine. Jedenfalls habe ich Vorphysikum und Physikum ohne Zeitverlust absolviert. Vier Wochen vor einem Examen zog ich mich immer zurück, ging gewissermaßen in Klausur und den ganzen Stoff noch einmal intensiv durch.

fundiert: Das war an der Universität Unter den Linden?

Kubicki: Genau. Übrigens bekam ich erst gar keinen Studienplatz. Erst, als ich im Fragebogen vermerkte, dass meine Eltern sogenannte Opfer des Faschismus waren, wurde ich zugelassen. Mein Vater war Kurier der polnischen Widerstandsbewegung und wurde 1942 von der Gestapo umgebracht.

fundiert: Wie haben Sie die ersten Semester an der Universität erlebt?

Kubicki: Positiv war, dass ich – wunschgemäß – studieren konnte, andererseits fühlte ich mich durch die politischen Eingriffe in den Universitätsbetrieb fatal an die NS-Zeit erinnert.

fundiert: Wie sah das aus?

Kubicki: Es wurden wieder politische Pflichtvorlesungen eingeführt, möglichst linientreue Studenten bevorzugt zugelassen und Studenten verhaftet, die sich dagegen wandten. Das verschärfte sich zunehmend. Im Frühjahr 1948 wurde drei Redakteuren der Zeitschrift Colloqium die Studienerlaubnis entzogen.

Fundiert: Colloqium, das war eine Studentenzeitschrift?

Kubicki: Das Colloqium war damals die führende Studentenzeitschrift! Die war sehr begehrt, und die Hefte gingen am Erscheinungstag weg wie warme Semmeln. Damals machte ich gerade mein Physikum, ging also wieder einmal einige Wochen in meine „Klausurphase“. Als ich mit dem Examen fertig war, wollte ich mich in der Redaktion vom „Colloqium“ wieder zurückmelden. Mein Freundeskreis war praktisch identisch mit den Mitgliedern der Redaktion. Ich schrieb ab und zu selbst für die Zeitschrift. Also betrat ich damals die Redaktion, um zu berichten, dass ich mein Physikum bestanden hätte und nun wieder mitarbeiten könne. Dort aber war die Hölle los. Wie schon erwähnt, war drei Kommilitonen gerade die Studienerlaubnis entzogen worden, das waren Otto Hess, Joachim Schwarz und Otto Stolz. Sie hatten die Eingriffe in das Universitätsleben kritisch kommentiert.

fundiert: Es gab Zwangsexmatrikulationen aus politischen Gründen?

Kubicki: Ja. Außerdem erregten uns die Verhaftungen von Kommilitonen, die ohne Begründung vorgenommen wurden. Den Kommunisten unliebsame Studentenverschwanden großteils spurlos. Zudem nahmen die Bespitzelungen zu, und man selbst musste mit unliebsamen Ereignissen rechnen.

fundiert: Was taten Sie?

Kubicki: Das Colloqium erschien mit einem gepfefferten Sonderheft. Ich schrieb damals selbst einen scharfen Artikel und wurde prompt für ein Disziplinarverfahren vorgesehen. Mit Sicherheit wäre ich früher oder später exmatrikuliert worden. Gerettet hat mich damals nur die Gründung der Freien Universität im Westteil derStadt, unter dem Schutz der Alliierten. Bei einer Kundgebung mit 2.000 Studenten hatte Otto Stolz den Aufbau einer freien Universität ultimativ gefordert.

fundiert: Viel sprach dagegen. West-Berlin hatte damals ganz andere Probleme: Im Sommer 1948 begann die Berlin-Blockade.

Kubicki: Richtig, vom wirtschaftlichen Standpunkt aus war es ein völlig ungünstiger Zeitpunkt für die Gründung einer Universität, vom politischen dagegen nicht, und das war unsere Chance.

fundiert: Aber ohne die Unterstützung der Amerikaner wäre es nicht gegangen?

Kubicki: Natürlich nicht. General Lucius D. Clay – ein ungemein politisch denkender General – sah, dass die Gründung einer Universität ein starkes Signal für die Bürger West-Berlins war, dass sich die West-Alliierten nicht aus der Stadt drängen lassen würden. Das wurde als Fanal verstanden, dass die Freiheit jetzt und hier verteidigt würde – auch die von Wissenschaft und Forschung! Wir Studenten waren ja nur ein Teil dieses Prozesses, aber ein sehr wichtiger, zumal wir sicher die stärkste Pressure-Group waren.

fundiert: Was waren die ersten Schritte auf dem Weg zur Gründung einer freien Universität?

Kubicki: Erstens die Genehmigung zur Gründung durch die Amerikaner, in deren Sektor die Universität liegen würde. Zweitens die Zustimmung des West-Berliner Magistrates, wofür Ernst Reuter stand. Und drittens die praktische Arbeit, die in großem Maße von studentischer Seite geleistet wurde. Praktisch bildete der Redaktionsstab des Colloquiums den ersten Allgemeinen Studenten-Ausschuss, den sogenannten Gründungs-AStA. Wir übernahmen zum Teil wichtige Verwaltungsaufgaben. So wurde ich unter anderem zuständig für die Zulassung, einschließlich der Quästur, das heißt dem Immatrikulationsbüro. Leider gab es ja weit weniger Studienplätze als Bewerber. Die Vorbereitungen für das Immatrikulationsverfahren hatten also Vorrang. Die erste Aufgabe war es, einen Fragebogen zu entwickeln. Auf unseren damaligen Fragebogen dürfen wir – denke ich – heute noch stolz sein.

fundiert: Warum?

Kubicki: Wegen seiner Kürze. Die Alliierten arbeiteten damals mit ellenlangen Fragebögen, die natürlich auch die politische Gesinnung und Vergangenheit eines Bewerbers ausforschen sollten. Wir wollten unsere Fragen aber bewusst auf das Notwendigste beschränken. Unser Bogen kam mit nur sieben oder acht Fragen aus, wobei es nur um den Namen und die Vorbildung ging, also Abitur, Vorstudienzeiten und akademische Examen – und natürlich auch um die Mitgliedschaft in Nazi-Organisationen. Damit sollte den Bewerbern auch signalisiert werden: Hier geht es nicht um Ideologie, sondern in erster Linie um Leistung.

fundiert: Das alles lief parallel zu Ihrem Studium?

Kubicki: Nun ja, nach dem bestandenen Physikum konnte ich wirklich ein Semester etwas lockerer angehen lassen. Vormittags hörte ich noch Vorlesungen an der Charité, nachmittags fuhr ich nach Dahlem, um bei den Vorbereitungen zu helfen.

fundiert: Wie gelang es Ihnen, als Erster immatrikuliert zu werden?

Kubicki: Ich sagte ja schon, dass ich die Aufgabe zugeteilt bekommen hatte, die Quästur aufzubauen und zu leiten. Und dann kam vom Kuratorium die Order, am ersten Tag seien die Medizinstudenten von A bis K einzuschreiben. Mit meinem Namen gehörte ich dazu,und so wollte ich mich als Ersten einschreiben. Unter A bis K fiel aber auch mein alter Freund und Kommilitone Helmut Coper. Wir ließen also das Los entscheiden, warfen einen Groschen hoch, und ich gewann. Coper wurde als Nummer zwei immatrikuliert.

fundiert: Wie sah das Studium an der Freien Universität während der ersten Monate aus?

Kubicki: Im ersten Semester war die Uni natürlich nur ein Torso, was sich aber schnell änderte. Ganz am Anfang hatten wir eigentlich so gut wie gar nichts. Ein Teil der Vorlesungen fand im Kino der U-Bahn-Station „Onkel Toms Hütte“ statt. Mit Licht war es schlecht bestellt, denn meist gab es Sperrstunden; Vorlesungen fanden häufig bei Kerzenschein statt. Die Stühle nahmen wir von Seminar zu Seminar mit. Alliierte und Berliner halfen mit Spenden, vor allem mit Büchern. Innerhalb weniger Semester waren etliche Institutsbibliotheken bereits gut ausgestattet. Aufwendig waren damals die langen Wege. Zudem fuhr abends nur noch die S-Bahn, die unter sowjetischer Kontrolle stand. Man musste also ziemlich viele und lange Wege zu Fuß bewältigen. Für die Mediziner lagen einige Institutionen sehr weit entfernt vom Klinikum Westend. Diese Strecken wurden mit Sonderfahrten der BVG bewältigt. Den Bus zur Nervenheilanstalt in Wittenau nannten wir „Irrenbus“ und die Straßenbahn zur Dermatologie im Britzer Krankenhaus „Gonokokkenschaukel“.

fundiert: Wie konnte man sich als Student in der Zeit des Mangels finanzieren?

Kubicki: Ich musste mir darüber, Gott sei Dank, wenig Sorgen machen. Meine Mutter bekam als Opfer des Faschismus die Lebensmittelkarte I und wurde sofort wieder in ihren Beruf eingestellt. Ich engagierte mich 1945 und 46 intensiv in der Kulturpolitik und organisierte die erste Ausstellung moderner Kunst in Neukölln. Für Studenten, die ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten mussten, war es schwierig. An der Freien Universität gab es schon während der frühen Semester die „Heinzelmännchen“, eine Organisation, die Arbeit vermittelte. Das hieß: Möbel schleppen oder Teppiche klopfen, alles für eine Mark pro Stunde.

fundiert: Wie war das Verhältnis von Studenten und Professoren?

Kubicki: Das Verhältnis zwischen beiden war gegenseitig durch Respekt geprägt. Wir fühlten uns in hohem Maße als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden. Der Aufbau einer Universität unter solchen Bedingungen schweißt zusammen. Am 4. Dezember 1948, am Tag der offiziellen Eröffnungsfeier der Freien Universität im Titania-Palast, konnten wir dann endlich aufatmen. Da wurde klar, dass wir es geschafft hatten.

fundiert: Haben Sie jemals daran gezweifelt, dass es Ihnen gelingen würde, eine Universität mitaufzubauen?

Kubicki: Eigentlich nicht. Natürlich war es abenteuerlich, in die Blockade hinein eine Universität zu gründen. Dass wir unsere Ziele erreichen würden, war nicht sicher, aber möglich, und wir haben daran geglaubt. Ich würde gern noch ergänzen, dass jeder, der in den einzelnen Instituten mitgeholfen hat, zu den Gründungsstudenten der Uni gehört, nicht nur die prominenten Mitglieder des Gründungs-AStA. Aufbruchsgeist und Tatkraft brachten damals alle mit.