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Die Energie des Theaters

31.05.2007

Szene aus "Der großmütige Hahnreih" Moskau 1922

Szene aus "Der großmütige Hahnreih" Moskau 1922

Vom Regisseur Eugenio Barba stammt die treffende Beobachtung, dass ein geübter Schauspieler in der Lage sei, die Aufmerksamkeit des Zuschauers nur über das „Energieniveau“ seines Körpers zu erlangen. Die „wissende und suggestive Ausstrahlung“ des Darstellers könne das Publikum auch dann in Spannung versetzen, wenn es einer rein technischen Demonstration, zum Beispiel einer Körperübung, zusieht. Barba muss jedoch einräumen:„Wenn man von der ‚Energie‘ des Darstellers spricht, heißt das, einen Begriff zu verwenden, der tausend Missverständnisse hervorrufen kann.“Eingedenk seiner etymologischen Bedeutung von „bei der Arbeit sein“ stellt sich der Theatermacher deshalb die Frage: „Wie kann der Körper des Darstellers bei der Arbeit sein, bevor er etwas zum Ausdruck bringt? Durch welches Wort können wir das Wort ‚Energie‘ ersetzen?“

Es verwundert nicht, dass die Rede von der Energie in künstlerischen Kontexten schnell auf Definitions- und Theoretisierungsprobleme trifft. Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften können die beim Gesang, beim Mal-Akt oder bei einer Aufführung beteiligten Energien nur schwer differenziert und kaum gemessen werden. Und doch werden sie, wie Barba zu Recht bemerkte, von jedem Betrachter unmittelbar gespürt, ja, er wird sogar – ob unwillkürlich oder bewusst – auf das jeweilige Energieniveau seines Gegenüber mit Aufmerksamkeit, Spannung, Unwohlsein oder Langeweile reagieren.

Die Frage nach der Energie zielt, so lässt sich feststellen, in den Kern der Kunst- und Kulturwissenschaften. Ihre rezeptionsästhetische Seite umfasst das Problem der Beschreibung und Analyse ästhetischer Erfahrungen, die hier vor allem Erfahrungen körperlicher Art sind. Wie lässt sich etwas versprachlichen und theoretisieren, das zwar bemerkt, aber nicht gewogen, gezählt oder fotografiert werden kann?

Die produktionsästhetische Seite des Problems verweist dagegen auf die technischen, habituellen und ökonomischen Parameter, die allen künstlerischen Produktionsvorgängen innewohnen. Jede Opernarie, jede Bewegungsetüde und jeder Pinselstrich bringen energetische Prozesse des Körpers zum Ausdruck. Ob die Darbietungen mit Verve oder mit Verhaltenheit, mit Dynamik oder mit „schicklicher Zurückhaltung“ vor das Publikum gebracht werden, hängt von den historisch und kulturell variierenden Diskursen über die Ökonomie des Körpers ab. So werden Theorien des Energetischen auch dann mitverhandelt, wenn der Begriff in den entsprechenden Schauspiel- oder Theatertheorien gar nicht explizit auftaucht.

Performative Turn

Eine Ausnahme stellen hier asiatische Theaterformen dar, die eine Vielzahl von Bezeichnungen aus dem Begriffsfeld „Energie“ für die Prozesse der Atmung, Bewegung und Interaktion bereithalten, und deshalb zur Inspirationsquelle zahlreicher europäischer Künstler – wie dem oben genannte Eugenio Barba – geworden
sind. Mit dem seit den 1990er Jahren auftauchenden performative turn haben die Geistes- und Kulturwissenschaften der Frage nach der Energie neue Aufmerksamkeit geschenkt. Die im Stichwort der Performativität zusammengefasste Einsicht, dass nicht nur Texte, Monumente und Objekte, sondern vor allem menschliche Praktiken, Kenntnisse und Aufführungsformen für eine Kultur ausschlaggebend sind, hat den wissenschaftlichen Fokus auf die ereignishaften, körpergebundenen und wirkmächtigen Handlungsformen, von denen alle Kulturen durchdrungen sind, gelenkt. Der „Clou“ dieses Ansatzes besteht unter anderem darin, die Aufteilung künstlerischer Prozesse in Rezeptions- und Produktionsseite durch die Betonung der Untrennbarkeit von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem, Handelndem und Behandeltem zu überwinden. Die ephemeren und spannungsgeladenen Prozesse zwischen Darstellern und Zuschauern werden zum Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Wie schwierig jedoch die Theoretisierung solcher Interferenzphänomene ist, zeigt etwa die Diskussion um das Konzept der Atmosphäre, mit dem das energetische Ineinander von inszenierten Dingqualitäten und leiblicher Wahrnehmungswirkung zu fassen versucht wird. Die Energie des Theaters lässt sich somit aus drei Perspektiven betrachten: erstens aus der Perspektive der Ökonomie des Körpers, die in Tanz, Gesangs- und Schauspieltheorien ausformuliert und in Körpertechniken und - übungen tradiert wird, zweitens aus der Perspektive der Wahrnehmungswirkung, die der jeweilige Körpereinsatz beim Betrachter hervorruft, und drittens aus der Perspektive der kollektiven Austauschprozesse, die sich zwischen den Akteuren vor und hinter der Bühnenrampe entfalten. Gerade diese „transgressiven Energien“ – von denen etwa der israelische Theaterforscher Freddie Rokem spricht – haben einen wesentlichen Anteil an der rituellen, gesellschaftlichen und politischen Funktion, die dem Theater seit mehr als zwei Jahrtausenden zukommt. Wenn im Folgenden ein expliziter Verfechter eines Theaters der Energie vorgestellt wird, so geschieht dies vor allem mit Blick auf das utopische Potenzial, das dem Energetischen am Beginn des 20. Jahrhunderts von künstlerischer Seite zugesprochen wurde.

Aufbauend auf den physikalischen Experimenten von Luigi Galvani, Michael Faraday und Hermann von Helmholtz und unterstützt durch die zunehmende Technisierung des öffentlichen Lebens entwickelt sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein moderner Energiediskurs, in dem Elektrizität, Energie und Leben Synonyme bilden. Darin überwindet die unsichtbare und geräuschlose Allgegenwärtigkeit der Elektrizität die Grenzen von Menschen- und Dingkörpern zugunsten eines gefüllten Raumes der „Ströme und Strahlen“, so der Titel eines vielzitierten Bandes des Kunsthistorikers Christoph Asendorf. In den fließenden Formen von Symbolismus und Jugendstil kommen solcherart „verflüssigte“ Körper ebenso zum Ausdruck wie in den expressionistischen Diskursen über Nervenschwingungen und Reflexe. „Grenzüberschreitung“ und „Kollektivierung“ werden zu utopisch aufgeladenen Metaphern des neuen Energiediskurses, der eine Analogie von Mensch und Maschine zu etablieren sucht.

Elektrifizierung + Sowjetmacht = Kommunismus

So formuliert etwa der deutsche Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald mit seiner Forderung „Vergeude keine Energie, verwerte sie!“ einen „energetischen Imperativ“, der in Maschinen und Lebewesen gleichermaßen Transformatoren erkennt, die das Ziel haben, die Umwandlungen von Energie so zweckmäßig wie möglich durchzuführen.

Insbesondere in der neu gegründeten Sowjetunion wird „Energie“ zur Metapher für Fortschritt und politische Umgestaltung, wie die Leninsche Pathosformel „Elektrifizierung + Sowjetmacht = Kommunismus“ bezeugt.
Für den Dynamismus der frühen sowjetischen Industrialisierungsphase ist die amerikanische Industriegesellschaft noch nicht Feind- sondern Vorbild. Der vitale „Pulsschlag“ und die Geschwindigkeit der amerikanischen Massenproduktion sind viel besungene Inspirationsquellen der sowjetischen Avantgarde. Die Übernahme des von Frederick Winslow Taylor für die amerikanischen Ford-Werke entworfenen scientific managments in den Kanon der sozialistischen Arbeitsrichtlinien dient dazu, das teilweise noch feudalistisch produzierende Russland in kürzester Zeit in einen modernen Industriestaat mit sozialistischen Klassen- und Sozialverhältnissen umzubauen. Weil für die Verwirklichung dieses ehrgeizigen Vorhabens nicht nur eine technisch-industrielle, sondern auch eine soziokulturelle Neuerfindung des Landes und seiner Bewohner nötig ist, müssen Kunst und Produktion gleichermaßen am utopischen Projekt beteiligt werden. Den Künstlern fällt damit die Rolle von Konstrukteuren eines „neuen Lebens“ und von Ingenieuren einer „neuen Psychologie“ zu.

Der Schauspieler als perpetuum mobile

Szene aus "Der großmütige Hahnreih", Moskau 1922
Dynamische Formen im Raum: Szene aus "Der großmütige Hahnreih", Moskau 1922
Foto: Institut für Theaterwissenschaften

Das OEuvre des Theatermachers Wsewolod Meyerhold zeugt in exemplarischer Weise von der Erfindung eines energetischen Körperbildes, in dem medizinische Reflexologie undgesellschaftlicher Utilitarismus zur Synthese gebracht sind. Das von ihm entwickelte System der Biomechanik umfasst Übungen und Bewegungsvorschriften für männliche und weibliche Schauspieler, die eine „Schnelligkeit“ und „Effizienz“ in der Darstellung garantieren sollen. Ausgehend von Pawlows und Bechterews Studien zu den bedingten Nervenreflexen entwickelt Meyerhold einen antipsychologischen Schauspielstil, bei dem die „reflektorische Erregbarkeit“ zum Ausgangspunkt jeder Darstellung wird. Dabei kehrt der Regisseur das (in Russland mit Konstantin Stanislawski sehr erfolgreich praktizierte) Prinzip des psychologischen Einfühlungstheaters um. Der Darsteller soll die Figur nicht „von innen heraus“ mit seinen eigenen Gefühlen und Erinnerungen beleben, sondern die Bewegungen, Worte und sogar Empfindungen der Schauspieler werden als Folge einer rein äußerlichen Nervenbehandlung gedacht: „Ein Mann tut so, als laufe er erschrocken vor einem Hund davon. Es ist kein Hund da, aber er läuft, als ob ein Hund hinter ihm her wäre. Beim Laufen entsteht in dem Mann tatsächlich ein Angstgefühl. So ist die Natur des Reflexes. Ein Reflex erregt einen anderen.“
An die Stelle der psychologischen Einfühlungstaktiken von Erinnern, Durcharbeiten und Wiederverkörpern tritt das rhythmische Training von Muskelkraft und physischen Reflexe

Eilmenschen

Das Körperbild, das in den biomechanischen Etüden der Schauspieler aufgerufen wird, ähnelt denn auch einem Boxer oder Skiläufer: „halb Gehen, halb Laufen, immer auf Federn“ soll der Gang des Schauspielers sein. „Der Zuschauer muss immer den Eindruck einer nicht ausgenutzten Reserve haben“, fordert Meyerhold von seinen Darstellern. Der Eindruck eines menschlichen perpetuum mobile korrespondiert mit dem neuen gesellschaftlichen Ideal des ununterbrochenen Produktionsflusses, bei dem „die Kardinalfrage: das Problem der Ermüdung“ nahezu zum Verschwinden gebracht worden ist. Meyerhold orientiert sich am modernen „Eilmenschen“, mit seiner „schnellen Reaktion, mit seiner Fähigkeit immer aufnahmebereit gegenüber den Ideen des sozialistischen Aufbaus zu sein, mit seiner Fähigkeit, sich zu schonen, indem er ein Minimum an nervlicher Energie verbraucht.“

In einer Gesellschaft, in der die Arbeit nicht mehr Fluch, sondern „freudvolle Notwendigkeit“ ist, lässt sich eine Unterteilung in notwendige Arbeit und angenehme Erholung nicht länger aufrechterhalten. Die Erholung soll deshalb integrativer Bestandteil des immerwährenden sozialistischen Aufbauprozesses sein. Meyerhold will analog zur Industrie die Theatergesten rationalisieren und effektivieren, weil der Kunst, die in den allgemeinen Zeitplan der Werktätigen eingeschlossen ist, eine bestimmte Zeit gegeben wird, die maximal zu nützen sei.

Die von Alexei Gastev am staatlichen sowjetischen Arbeitsinstitut analysierten Bewegungsabläufe von Handwerkern und Industriearbeitern werden zum Vorbild der Meyerhold‘schen Körperarbeit. Dabei gilt es, sich an drei Maximen zu orientieren: Jede Geste ist Resultat der Arbeit des ganzen Körpers; jede Bewegung erfolgt aus dem Zentrum des Körpers, das bei Meyerhold der Solarplexus ist und jede Bewegung entsteht aus einer körperlichen Grundspannung. Die Arbeit an Balance, Standfestigkeit und Spannung kennzeichnet Meyerholds biomechanisches Trainingsprogramm. Jede Etüde besteht aus unzähligen segmentierten Einzelbewegungen: Sprünge, Drehungen, Gewichtsverlagerungen etc., die nach Maßgabe eines zugrunde liegenden Rhythmus“ in ein dynamisches Bewegungskontinuum gebracht werden. Sie folgen einem dreiteiligen Bewegungsschema, das aus Otkas (ausholen, vorbereitende Gegenbewegung), Posyl (Ausführen der Bewegung) und Stoika (Stand) besteht. Wichtig ist hier, dass jede Bewegung nicht aus einem statischen „Nullzustand“, sondern aus einer bereits vorher begonnenen Geste hervorgeht, sodass jede Aufführung aus einer unendlichen Kette von Bewegungssequenzen entsteht.

Auch der Begriff Tormos (russisch: Bremse) enthält einen zentralen Hinweis auf Meyerholds Bewegungsphilosophie. Jede Bewegung wird bei ihrer Ausführung bereits abgebremst, sodass selbst bei schnellen und akrobatischen Aktionen der Schauspieler sein Gleichgewicht behält und seine Bewegungen bewusst kontrolliert.

Im Gegensatz zur Pose, bei der die Bewegung auf ihrem Höhepunkt „eingefroren“ wird, arbeiten Meyerholds Schauspieler am potenziellen Umschlag in eine neue Bewegung. So entsteht ein permanenter Progress, der in keiner Klimax aufgehoben wird.

Gemeinschaft ohne Rampe

Durch die Abschaffung der Rampe zwischen Bühne und Auditorium werden die Zuschauer architektonisch in das Geschehen eingebunden. Die geforderte Annäherung von Theater und Leben stützt sich jedoch nicht nur auf eine räumliche Verschmelzung, sondern ebenso auf den Wegfall typischer theatraler Illusionselemente, wie Kostüm und Schminke. Meyerholds Bühnenbildnerin Ljubow Popowa hatte für Meyerholds Darsteller einen blauen Einheitsanzug kreiert, der dem Vorbild industrieller Arbeitsmontur nachempfunden war. Die Schauspieler verzichteten auf die Verwendung von Schminke, was bei der Größe der Bühne umso mehr dazu beitrug, dass die Akteure einzig mit den Bewegungen des Körpers Emotionen und Handlungen ausdrücken konnten. „Von Maske und Kostüm befreit, handhabten wir die Ausdrucksmittel des eigenen Körpers, studierten wir die Gesetze der Haltungen, dann die der stürmisch vorandrängenden Bewegung, die Dynamik des Dialogs, die Spannungselemente der Handlung … und das allein vermittels des Körpers. Keinerlei Dekoration. Nichts als der menschliche Körper.“

Szene aus „Der großmütige Hahnreih“, Moskau 1922
Dynamische Formen im Raum: Szene aus „Der großmütige Hahnreih“, Moskau 1922.
Foto: Institut für Theaterwissenschaft

Energie des Dargestellten

Die Tatsache, dass auf gewöhnliche Bühnenhilfsmittel verzichtet wurde, bedeutete außerdem, dass die Darsteller in vermehrter Weise zusammen agieren mussten, um bestimmte Momente des Geschehens zu betonen oder zu karikieren. Während das psychologische Theater vor allem die Intonation und die Gesichtsmimik zu den wichtigsten Ausdruckselementen der Darstellung erkoren hatte, so weitete Meyerhold die Bestimmung signifikanter Elemente auf den gesamten Körper aus. In der Dynamik des bewegten Körpers erkannte der Künstler den Schlüssel zu allen mentalen und physischen Ausdrucksmöglichkeiten der Bühne.

Indem Meyerhold mit solcher Strategie die Energie des Dargestellten betonte und ihren Zeichencharakter als beliebig verschiebbaren erkennen ließ, drehte er das Prinzip literarischer Inhaltsästhetik zugunsten einer konstruktivistischen Gestaltung um. Genau hier steht Meyerholds Arbeit im Einklang mit der utopischen Setzung von Geschichte, wie sie die künstlerischen Avantgarden der 1920er Jahre formuliert haben. Zehn Jahre später werden die offen sichtbaren Konstruktionsformen deshalb mit dem Bannstrahl des Formalismus- Vorwurfs aus den Fotomontagen, Fotoreportagen und Inszenierungen verbannt, weil sie – wie Hubertus Gaßner formuliert hat – „dem Betrachter immer zu erkennen geben, dass die dort abgebildete Wirklichkeit in Wahrheit nicht so ist, wie sie zu sein vorgibt, dass sie bloß montiert worden ist und deshalb auch wieder verändert und neu zusammengesetzt werden kann.“

Als Stalin Mitte der 1930er Jahre den gesellschaftlichen Status Quo des Sowjetischen Staates als „vollendeten Sozialismus“ deklarierte, der nun in ausschließlich in Formen des sozialistischen Realismus widergespiegelt werden durfte, wird dem Regisseur das utopische Potenzial seiner Kunst zum tödlichen Verhängnis. Meyerhold – seinen Zeitgenossen als „Taylor des Theaters“ bekannt – wird am 2. Februar 1940 vom sowjetischen Geheimdienst erschossen.

Die Frage nach der Energie des Theaters ist von den westeuropäischen Theater-Avantgarden in diesem gesellschaftspolitischen Sinne erst wieder mit der Aktionskunst der 1960er Jahre aufgegriffen worden. Auch wenn es nun nicht mehr um Aspekte der Effizienz und Produktivitätssteigerung geht, wird Meyerholds Verfahren des kreativen Arbeitens „von außen nach innen“ zu einem Leitmotiv des zeitgenössischen Theaters.