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Gewalt an deutschen Schulen

Gewalt an deutschen Schulen

Präventives Eingreifen als Lebensretter

Von Herbert Scheithauer und Dietmar Heubrock

Der 26. April 2002 hat Deutschland traumatisiert: In Erfurt erschießt der ehemalige Schüler Robert Steinhäuser innerhalb weniger Stunden 15 Lehrer und Mitschüler des Gutenberg-Gymnasiums, einen der herbeigerufenen Polizeibeamten und schließlich sich selbst. Nicht nur die hohe Zahl der zu beklagenden Todesopfer, sondern auch die Umstände und die später bekannt werdenden Details der Tat lösen im ganzen Land Entsetzen aus. Erstmalig in Deutschland wird eine Schule von einer Gewalttat erfasst, die von einem jungen Menschen ausgeht, der diese Amoktat – wie sich später heraus stellt – über lange Zeit bis in das kleinste Detail geplant und vorbereitet hat und dem es möglich war, sich die hierzu nötigen Waffen, eine Pistole und eine so genannte Pump Gun, mehr oder weniger legal zu beschaffen.

Die Vorkommnisse von Erfurt entfachten in der Folgezeit nicht nur eine heftige pädagogische Debatte über das Versagen des Schulsystems, der Pädagogik und der elterlichen Erziehung, sie zogen auch eine in erstaunlich schneller Zeit durchgeführte Änderung des Waffengesetzes nach sich. Die Amoktat von Erfurt wurde aber auch deswegen zu einem Trauma, weil es schlagartig mit einem lange gehegten Vorurteil aufgeräumt hat: Tödliche Schüsse an Schulen sind kein Vorrecht der USA, so wie sie sich zuletzt in Red Lake, Minnesota, wieder ereignet haben. Sie können jederzeit auch an deutschen Schulen fallen – und sie tun es auch.


Schwere, gezielte Gewalt an Schulen: Nur ein US-amerikanisches Problem?

Schulgewalt kennt viele Gesichter

Amoktaten mit einer meist hohen Opferzahl in kürzester Zeit sind nur eine Form schwerer, gezielter Gewalt an Schulen. Die einige Zeit nach Erfurt bekannt gewordenen Ereignisse an einer Hildesheimer Berufsschule und die wiederum nur kurze Zeit später ermittelten Vorkommnisse an einer weiteren Berufsschule von Hannover haben gezeigt, dass zu Gewalttaten, die von Schülern ausgehen oder im Kontext einer Schule ausgeübt werden, weder Schusswaffen noch eine langfristige geheime Vorbereitung notwendig sind. Ein Beispiel hierfür wäre das so genannte Bullying unter Schülern, bei dem einzelne Schüler über einen längeren Zeitraum wiederholt von anderen Schülern auf unterschiedliche Weise zu Opfern werden, beispielsweise durch soziale Ausgrenzung, Schikanieren, Verspotten bis hin zu „öffentlichen Erniedrigungen“ (Scheithauer, Hayer, Petermann, 2003).

Direkte Ankündigungen

Indirekte Ankündigungen

  • Zeichnungen
  • Schulaufsätze
  • Comics
  • Chat-Rooms
  • E-Mails
  • Telefonate
  • SMS
  • Graffiti
  • direkte verbale Ankündigungen
  • demonstratives Interesse an Waffen
  • Tragen von Tarnkleidung
  • Sammeln von Zeitungsausschnitten über vergangene Amoktaten

Als sollte uns die auch hierzulande denkbare Vielgestaltigkeit schwerer schulbezogener Gewalt erneut vor Augen geführt werden, erschoss kurz vor Weihnachten 2004 in Hannover ein erst 14-jähriger Schüler seine Eltern, als sein Vater ihm androhte, wegen schulischer Überforderung in ein Internat geschickt zu werden. Dagegen ging das vorerst letzte Ereignis schulischer Gewalt in Deutschland noch soeben glimpflich aus, bei dem im März 2005 ein wiederum erst 14-jähriger Hauptschüler im oberpfälzischen Rötz nach einem Klassenverweis vor den Augen seiner Schulklasse einen Lehrer mit einem Revolver bedrohte und sich bei dem anschließenden Gerangel ein Schuss gelöst hatte.

Einige neuere wissenschaftliche Untersuchungen scheinen die Vermutung auf den ersten Blick tatsächlich zu bestätigen, dass hierzulande amerikanische Verhältnisse drohen. In Deutschland gibt es mittlerweile zahlreiche empirische Studien, die Gewalt im schulischen Kontext untersuchen und dabei das Führen oder Benutzen von Waffen als eine Erscheinungsform devianten Schülerverhaltens berücksichtigt haben.

Missbrauch gefährlicher Waffen

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass auch in Deutschland ein nicht zu unterschätzender Anteil an Schülern mit potenziell gefährlichen Waffen zur Schule geht, ohne jedoch regelmäßig Gebrauch von ihnen zu machen und andere Personen anzugreifen. Das Tragen und der (eher seltene) Einsatz von Waffen – zumeist handelt es sich hierbei um Messer – werden vornehmlich von männlichen Jugendlichen praktiziert, die die oberen Jahrgangsstufen der Sekundarstufe 1 besuchen.

Das Ausmaß der Bewaffnung und die damit unmittelbar verknüpfte Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit sowie die Wirkung auf das subjektive Sicherheitsgefühl der Schüler und Lehrer erfordern auch hierzulande dringend Maßnahmen, die dem Ge- und Missbrauch von gefährlichen Waffen entgegensteuern. Nach intensiven Beratungen wurde als ein erster Schritt und mit direktem Bezug auf die Amoktat von Erfurt im April 2003 ein novelliertes Waffengesetz verabschiedet, das unter anderem die Liste verbotener Waffen (zum Beispiel so genannte Totschläger, Schlagringe, Faust- und Butterflymesser) erweitert und das Führen von Gas- und Schreckschusswaffen an besondere Voraussetzungen (so genannter Kleiner Waffenschein) geknüpft hat.


Wann wird aus einem Schüler ein Amoktäter?   Foto: Ausserhofer

Neues Waffengesetz

Die eigentliche Zielrichtung des Gesetzes, den Zugang zu Schusswaffen und deren möglichen Missbrauch durch Heranwachsende zu erschweren und potenziell gefährlichen Personen frühzeitig zu verwehren, soll durch das Heraufsetzen der Altersgrenzen für den Erwerb und Besitz von Schusswaffen und Munition in bestimmten Fällen sowie den nun neu erforderlichen Nachweis der persönlichen Eignung beziehungsweise geistigen Reife erreicht werden. Hierbei stellt die im Waffengesetz besonders hervorgehobene Gruppe der unter 25-Jährigen eine Besonderheit dar, da diese Fallgruppe nun in jedem Fall auf eigene Kosten ein ärztliches oder fachpsychologisches Gutachten beibringen muss, auch wenn im konkreten Fall bisher keine Zweifel an der persönlichen Eignung bekannt geworden sind (vgl. Heubrock, Baumgärtel & Stadler, 2004). Diese Präventionsmaßnahmen haben aller Voraussicht nach aber nur eine sehr eingeschränkte Wirkung: Von dem Erfurter Amoktäter abgesehen, hatten sich die meisten derjenigen Schüler, die bei schulbezogenen Gewalttaten auf Schusswaffen zurückgegriffen haben, aus dem Waffenarsenal ihrer Väter bedient, die als Jäger oder Sportschützen völlig legal über Schusswaffen verfügen durften.

Maßnahmen zur Prävention

In eine ähnliche Richtung gingen Aktionen, die von den Länderpolizeien durchgeführt wurden und das Einziehen von so genannten verbotenen Waffen nach dem neuen Waffengesetz zum Ziel hatten. Hierzu wurde eine „Amnestieregelung“ genutzt, die vorsah, dass der Besitz dieser Waffen (Butterfly-, Faust-, Spring- und Fall-Messer, Wurfsterne und Elektroschockgeräte ohne Kennzeichnung) bis zum 31. August 2003 nicht unter Strafe gestellt war, sofern der Besitzer diese Gegenstände unbrauchbar gemacht, vernichtet oder einem Berechtigten übergeben hatte. Im Bereich des Landeskriminalamtes Bremen konnten im Rahmen einer Aktionswoche „Waffenfreies Bremen – Ein Zeichen gegen Gewalt“ (Rusch, 2003) an allen 18 Polizeirevieren der Stadt Bremen sowie an insgesamt 71 Schulen der Sekundarstufen eins und zwei und den berufsbildenden Schulen verbotene Waffen anonym und straffrei in Spezialbehältnissen abgegeben werden.


Sammlung von verbotenen Waffen im Rahmen der Aktionswoche "Waffenfreies Bremen - Ein Zeichen gegen Gewalt" der Polizei Bremen; Foto: Polizei Bremen

Die bereits optisch beeindruckende Menge und Vielfalt der eingesammelten verbotenen Waffen belegt, dass in erheblichem Umfang gefährliche Waffen bis hin zu scharfen Lang- und Kurzwaffen sowie Sprengkörpern bis zum Abgabezeitpunkt im Umlauf gewesen sind. Der unbestrittene Erfolg dieser und weiterer bundesweit durchgeführter Sammelaktionen von verbotenen Waffen nach Einführung des neuen Waffengesetzes darf aber auch nicht darüber hinweg täuschen, dass sich noch vermutlich ein Vielfaches der sichergestellten, zu Gewalttaten geeigneten Gegenstände im Besitz von potenziell gefährlichen Schülern befinden dürfte. Da auch die verschärften Vorschriften zur Verwahrung legaler Waffen nicht verhindern können, dass sich unberechtigte Personen Zugang zu Legalwaffen verschaffen können, kommt auch weiterhin der frühzeitigen Identifizierung potenzieller Täter eine entscheidende Bedeutung zu.

Gefährdungsanalysen

Eine frühzeitige Identifizierung möglicherweise gefährlicher Schüler mit Zugang zu Waffen ist darauf angewiesen, von den Jugendlichen selbst oder aus ihrem unmittelbaren Umfeld eindeutige Hinweise zu erhalten, diese wahrzunehmen und sie richtig zu deuten. Mehrere Untersuchungen konnten zeigen, dass nicht nur bei Amokläufen, sondern auch im Zusammenhang mit anderen zielgerichteten Gewalttaten in einer Mehrzahl der Fälle spezifische Auffälligkeiten vor der Tat zu verzeichnen waren. Diese auch als „Leaking“ (englisch: Tröpfeln, Leckschlagen) bezeichneten Hinweise vor der geplanten Gewalttat können sich in Zeichnungen, Schulaufsätzen, Mitteilungen in so genannten Chatrooms und Foren im Internet, E-Mails an Klassenkameraden, verbalen Äußerungen und ähnlichen Signalen manifestieren und stellen für die fallbezogene präventive Intervention den bedeutendsten Ansatz dar.

Eine Analyse von spektakulären Amoktaten an amerikanischen Schulen hat die Bedeutung von „Leaking“-Handlungen der Täter vor der Tatausführung bestätigt. In allen Fällen wurden Tötungshandlungen, in einigen Fällen auch in Verbindung mit einem dann folgenden Suizid, durch die Täter unmissverständlich angekündigt (McGee & DeBernardo, 1999; Verlinden, Hersen & Thomas, 2000). So hatten die Täter immer zuvor mit Gewalt gedroht, einen detaillierten Tatablaufplan entwickelt, gezielte Tatvorbereitungen getroffen und in den meisten Fällen hatten die späteren Täter ihre geplanten Gewalttaten direkt angekündigt.


Kann man die Fehlentwicklung von Kindern erkennen?
Foto: Polizei

Da einige Täter ihre Drohungen über einen längeren Zeitraum hinweg wiederholt hatten und alle Täter am Vortag der Tat ihr Vorhaben durch „Leaking“-Handlungen direkt ausgedrückt hatten, wäre bei entsprechender Deutung ein rechtzeitiges Eingreifen prinzipiell möglich gewesen. Dass die Einschätzung angekündigter Gewalttaten durch Mitschüler, Familienmitglieder und Lehrer das eigentliche Problem darstellt, verdeutlichen Berichte, denen zufolge unmittelbar und konkret angekündigte Tötungshandlungen in Schulen durchweg nicht ernst genommen wurden (detaillierte Fallanalysen bei Verlinden, Hersen & Thomas, 2000). Unsicherheiten in der Beurteilung der angekündigten Gewalttaten werden allerdings dadurch begünstigt, dass derzeit empirisch gesicherte Kriterien fehlen, die eine zuverlässige Entscheidung über die Ernsthaftigkeit einer Drohung erlauben. Eine zuverlässige Einschätzung darüber, ob mögliche „Leaking“-Dokumente als Ankündigung einer zukünftigen gezielten Gewalttat oder als deliktunspezifisch, etwa als pubertäre Fantasie zu bewerten sind, ist damit das entscheidende „Nadelöhr“ einer einzelfallbezogenen Prävention.

Leaking-Dokument eines 15-jährigen Schülers (aus Heubrock et. al. 2005)

„Ich habe einen Stuhlbein halb durch gesägt. Und dar hatte ich Eisklotz unter gelegt. Und ich habe sie [Lehrerin] erst oben mit ein Seil angebunden. Und das andere Ende bei ihr um Hals gebunden. Und da kam Frau H. [Klassenlehrerin] rein. Aber das Eis war noch nicht geschmolzen wo sie rein kam. Da habe ich dan anderes Seil genommen und habe das selbe gemacht. Und da kam Frau A. [Lehrerin] rein und sagt das ich es sein lassen soll. Aber ich habe nicht gehört. Und da habe ich mein Messer gezoken und da habe ich sie umgebracht. Einen Stunde später kam Herr P. [Lehrer] rein und sagt wen ich nicht so fort auf hören den hole ich die Poliezei. Bis er die Poliezei holen kann habe ich in umgebracht.“

Verbesserung der Präventationsmöglichkeiten

Vor dem Hintergrund der aktuellen Situation an deutschen Schulen bildete sich eine interdisziplinäre Forschergruppe, bestehend aus Prof. Dr. Herbert Scheithauer (Freie Universität Berlin), PD Dr. Dietmar Heubrock (Universität Bremen), KHK Stephan Rusch (Landeskriminalamt Bremen) und Dipl.-Psych. Tobias Hayer (Universität Bremen), um Möglichkeiten der Prävention zu erarbeiten. Ziel des Projektes ist es, Ankündigungen von zielgerichteten schweren Schulgewalttaten („Leaking“) systematisch zu analysieren, um hieraus ein Melde- und Reaktionssystem zu entwickeln, das Amok- und andere Gewalttaten verhindern helfen soll.

Zudem werden im Rahmen einer Kooperation zwischen der Freien Universität Berlin mit der Polizei Berlin und der Polizei Bremen Möglichkeiten erarbeitet, im Falle von Tatankündigungen gemeinsam auf Polizei- und Schulebene zu reagieren. Weitere Informationen zur Projektidee können Heubrock, Hayer, Rusch und Scheithauer (2005) entnommen werden.

 

Literatur:

Heubrock, D., Baumgärtel, F. & Stadler, M.A. (2004): Psychologische Begutachtung zur„persönlichen Eignung“ und zur „geistigen Reife“ im neuen Waffengesetz [WaffG]. Praxis der Rechtspsychologie, 14, 82-96
Heubrock, D., Hayer, T., Rusch, S. & Scheithauer, H. (2005): Prävention von schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen – Rechtspsychologische und kriminal-präventive Ansätze. Polizei & Wissenschaft, 1/2005, 43-57
Leithäuser, T. & Meng, F. (2003, Juli): Ergebnisse einer Bremer Schülerbefragung zum Thema Gewalterfahrungen und extremistische Deutungsmuster. Universität Bremen: Akademie für Arbeit und Politik (Online-Dokument: http://www.bildung.bremen.de/sfb/bildung/gewalt.pdf)
McGee, J.P. & DeBernardo, C.R. (1999): The classroom avanger: Behavior profile of school based shootings. Forensic Examiner, 8, 16-20
Rusch, S. (2003): Erfahrungsbericht zur Aktionswoche „Waffenfreies Bremen – Ein Zeichen gegen Gewalt“. Unveröffentlichtes Manuskript: Polizei Bremen/Landeskriminalamt K 333
Scheithauer, H., Hayer, T. & Petermann, F. (2003): Bullying unter Schülern – Erscheinungsformen, Risikobedingungen und Interventionskonzepte. Göttingen: Hogrefe
Schubert, B. & Seiring, W. (2000): Waffen in der Schule - Berliner Erfahrungen und Ansätze. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 49, 53-69
Schwind, H.-D., Roitsch, K., Ahlborn, W. & Gielen, B. (1997): Gewalt in der Schule am Beispiel Bochum (2. erw. und aktual. Aufl.). Mainz: Weisser Ring
Tillmann, K.-J., Holler-Nowitzki, B., Holtappels, H.G., Meier, U. & Popp, U. (2000): Schülergewalt als Schulproblem: Verursachende Bedingungen, Erscheinungsformen und pädagogische Handlungsperspektiven (2. Aufl.). Weinheim: Juventa
Verlinden, S., Hersen, M. & Thomas, J. (2000): Risk factors in school shootings. Clinical Psychology Review, 20, 3-56