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Sicher, dass wir das wollen?

Die AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung an der Freien Universität untersucht neue Sicherheitskonzepte und fördert das gesellschaftliche Abwägen zwischen Sicherheit und Freiheit.

09.12.2017

Ein Kilo Kartoffeln, 28 Liter Mineralwasser, ein Glas Sauerkirschen, 10 Eier: Genug, um 14 Tage ohne Versorgung von außen über die Runden zu kommen. Wenn die Bundesregierung, wie im August 2016, Empfehlungen herausgibt, was die Bevölkerung für Notfälle bevorraten soll, macht das Schlagzeilen. Nüchtern betrachtet, handelte es sich nur um ein Update der nationalen Zivilschutzstrategie. Aber die Meldung rief in Erinnerung, dass auch in Deutschland Extremwetterereignissen zunehmen und das Land Ziel von Terroranschlägen oder Cyberattacken werden könnte. Sofort entbrannte eine Diskussion, ob die Sicherheitslage tatsächlich rechtfertige, die Bevölkerung zu „Hamsterkäufen“ aufzufordern. 

Die AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung an der Freien Universität untersucht neue Sicherheitskonzepte

Die AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung an der Freien Universität untersucht neue Sicherheitskonzepte
Bildquelle: photocase.de,PolaRocket https://www.photocase.de/fotos/2045048-nummer-as-nummer-ueberwachung-i-nackt-stadt-freiheit-fassade-angst-photocase-stock-foto 

Für die Sicherheitsforscher Lars Gerhold und Roman Peperhove sind solche Diskussionen erst einmal ein gutes Zeichen: Die Gesellschaft handelt öffentlich aus, wovon sie sich bedroht fühlt und welche Nachteile sie für mehr Sicherheit in Kauf zu nehmen bereit ist – oder eben nicht.Einige behördliche Empfehlungen sind gerade für Stadtbewohner kaum umzusetzen. „Manche Menschen in der Stadt hätten ein Platzproblem, wenn sie Vorräte für 14 Tage in einer Mietwohnung einlagern sollten“, sagt Peperhove. Essen und Getränke für drei Tage vorzuhalten, das sei hingegen sinnvoll und auch jenen vermittelbar, die zu Spontankäufen neigten. Die beiden Wissenschaftler koordinieren in der AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung an der Freien Universität Projekte, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Sicherheitsforschung beschäftigen; auch mit dem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit. Sie interessiert, wie sich die Sicherheitskultur in Deutschland verändert: Was Menschen, was Institutionen als Gefahr betrachten – und wie sie sich dann verhalten.

Wie kann die Bevölkerung versorgt werden?

So untersuchten sie zum Beispiel im Projekt NeuENV (Neue Strategien der Ernährungsnotfallvorsorge), wie die Versorgung der Bevölkerung bei „Großschadensereignissen“, etwa längeren überregionalen Stromausfällen, sichergestellt werden kann. Sie verglichen im Projekt „Vergleichende Vulnerabilitätsbetrachtung der Lebensmittelversorgung in OECD-Ländern im Falle von Großschadensereignissen“ (VVL-OECD) zudem, wie andere Länder mit ihren Bürgerinnen und Bürgern über mögliche Versorgungsengpässe kommunizieren.

„In Deutschland neigen wir zu Bedrohungsrhetorik“, fasst Lars Gerhold, Professor für Interdisziplinäre Sicherheitsforschung, die Ergebnisse des Projekts VVLOECD zusammen. In anderen Ländern werde Vorratshaltung mit Bequemlichkeit im Alltag verknüpft: „In der Schweiz kommuniziert man, dass ein Notvorrat auch bei unangemeldetem Besuch oder Krankheit sehr praktisch ist.“ In Neuseeland habe man erkannt, dass nicht der Nahrungsvorrat allein im Notfall entscheidend sei, sondern es insbesondere auf nachbarschaftliche Hilfe ankomme. „Die Fähigkeit, füreinander zu sorgen und soziale Verantwortung zu übernehmen, ist auch in Deutschland sehr stark ausgeprägt“, ist Gerhold überzeugt. „Das vergessen viele Menschen, die Katastrophenszenarien malen.“

Sieben Projekte haben die rund zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung bereits abgeschlossen, an weiteren acht forschen sie zurzeit. „Wir arbeiten in einem enorm dynamischen Forschungsfeld“, erläutert Lars Gerhold. Durch das Sicherheitsforschungsprogramm der Bundesregierung seien seit 2007 etliche Projekte finanziert worden. Meist werde mit technischen Lösungen wie zum Beispiel der Videoüberwachung versucht, mehr Sicherheit herzustellen. „Aber die Politik hat schnell gemerkt, dass mit neuen Technologien alleine keine umfassende Sicherheit erreicht werden kann.“ Im Gegenteil: Oft entstehen aus technischen Sicherheitslösungen neue Unsicherheiten, eine Videoüberwachung kann zum Beispiel Persönlichkeitsrechte einschränken. Deswegen „leisteten“ sich die Politikerinnen und Politiker eine „kritische Stimme“, wie Gerhold die Rolle seines Teams nennt: „Wenn die Euphorie über ein neues Tool ausbricht, wie etwa das Erkennen von Bewegungsmustern einzelner Personen im öffentlichen Raum, dann beginnen wir die Diskussion über die langfristigen Folgen für unsere Gesellschaft und unser Menschenbild.“

2008 veröffentlichten Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen das „Grünbuch Öffentliche Sicherheit“, in dem verschiedene Bedrohungsszenarien formuliert wurden. Gleichzeitig machte das Buch deutlich, dass wenig darüber bekannt war, wo Sicherheitsforschung betrieben wurde und welche Ergebnisse es gab. Um diese Informationslücken zu schließen, wurde das „Forschungsforum Öffentliche Sicherheit“ 2009 durch den Informatikprofessor Jochen Schiller an der Freien Universität ins Leben gerufen. Daraus ging die 2015 gegründete AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung unter Leitung von Lars Gerhold hervor, deren Koordinierungsstelle für die immer zahlreicheren Forschungsprojekte von Roman Peperhove geleitet wird.

In den vergangenen Jahren ist die AG zur zentralen Anlaufstelle für Politik und die interessierte Öffentlichkeit beim Thema Öffentliche Sicherheit geworden. Ein Schwerpunkt der Arbeit ist nach wie vor die Vermittlung von Forschungsergebnissen an Politikerinnen und Politiker. In einigen Fällen konnten die Sicherheitsforscher sogar Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen. „Bei der Neuregelung des Gesetzes zur Sicherstellung der Ernährung in einer Versorgungskrise wurde explizit auf die Ergebnisse unseres Forschungsprojektes NeuENV gewartet“, sagt Lars Gerhold. Schließlich folgte man den Empfehlungen der Wissenschaftler: Supermärkte und Lebensmittelproduzenten können jetzt bei nationalen Versorgungskrisen stärker in die Notfallplanungen einbezogen werden.

Das Ziel der Sicherheitsforscherinnen und -forscher an der Freien Universität ist aber, den Umgang mit Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit gesellschaftlich möglichst breit zu diskutieren. Mit unterschiedlichen Formaten wie Vorträgen, Workshops, einer gebührenfreien Schriftenreihe und den „Dahlemer Rundgesprächen“ sprechen sie Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Behörden an, um transdisziplinär Diskurse anzustoßen. Die Fachleute werden über Technik und politische Rahmenbedingungen informiert, umgekehrt trägt Gerholds Team die Fragen und Bedenken aus der Gesellschaft wieder zurück in Politik und Wissenschaft.

Zusätzlich bieten die Wissenschaftler seit zwei Jahren das interaktive Format „Schaufenster Sicherheitsforschung“ in den Räumen des Kooperationspartners „Innovationszentrum Öffentliche Sicherheit“ an, das am Fraunhofer Institut für Offene Kommunikationssysteme (FOKUS) angesiedelt ist. Dort können angemeldete Gruppen Risikoszenarien selbst erleben und sich über Ergebnisse zur Sicherheitsforschung informieren. Roman Peperhove erläutert: „Zunächst zeigen wir, zu welchen Themen Sicherheitsforschung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Dann führen wir Technologien vor, die in Zukunft eingesetzt werden könnten: Detektoren für alleinstehende Koffer zum Beispiel, Sensoren, die trotz Qualm in brennenden Tunneln Informationen sammeln können, oder Technologien für die automatisierte Auswertung von Big Data.“

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diskutieren mit den Besuchergruppen im Anschluss auch grundlegende Fragen, etwa das Für und Wider von Videoüberwachung. Immer wieder stellen sie dabei fest: Viele Menschen verstehen unter Videoüberwachung einen Wachmann, der 40 Bildschirme im Blick hat. Doch so einfach sei es nicht. Lars Gerhold widerspricht deshalb auch der pauschalen Behauptung, ein Großteil der Bevölkerung akzeptiere Videoüberwachung. „Solange ich nicht weiß, was bei der Überwachung tatsächlich passiert, kann ich ihr auch nicht bewusst zustimmen. Überwachung wird hingenommen, weil man beispielsweise an Flughäfen keine andere Wahl hat.“

Roman Peperhove ergänzt: „Es gibt durchaus Technologien, die mit Privatsphäre und Datenschutz vereinbar wären, indem sie zum Beispiel automatisch bestimmte Bereiche schwärzen.“ Gesellschaftliche Werte und Grundrechte sollten daher bereits bei der Technikentwicklung mit bedacht werden. Auch deshalb sind das Forschungsforum Öffentliche Sicherheit und die AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung am Fachbereich Informatik der Freien Universität angesiedelt. Hier sorgen Lars Gerhold und die AG, in der vornehmlich Geistes- und Sozialwissenschaftler forschen, mit ihren Fragestellungen und Projekten für wertvolle „Irritationen“.

„Ein Softwareentwickler kann sich nicht einfach darauf zurückziehen, ‚nur der Entwickler‘ zu sein. Wer Algorithmen für die Gesichtserkennung entwickelt, verantwortet mit, wenn ein bestimmter Prozentsatz von Menschen ‚falsch verdächtigt‘ wird“, sagt Gerhold. Er lässt zum Beispiel die Studierenden alle Sicherheitstechnologien in den Plan eines Flughafens einzeichnen: Kameras, Scanner, Personal – auch um zu zeigen, dass man sich an einem Flughafen nicht unbeobachtet bewegen kann. „Der Plan wird immer voller, immer unübersichtlicher. Ein Flughafen ist eigentlich ein ‚Nicht-Ort‘ mit einem aus Sicherheitsgründen völlig durchreglementierten Konzept.“ Wer in ein anderes Land fliegen wolle, müsse diesen Ort passieren. Diese Situation lasse sich auch auf andere Orte übertragen, Bahnhöfe zum Beispiel. Wollen wir auch dort eine vollständige Überwachung? Eine Frage, die angesichts aktueller Tests zur Gesichtserkennung am Berliner Bahnhof Südkreuz diskutiert werden muss, finden Sicherheitsforscher wie Gerhold.

Mit dem Forschungsprojekt „Wirtschaftlichkeit von Sicherheitsmaßnahmen im öffentlichen Personenverkehr“ wird untersucht, ob Unternehmen wie die BVG das subjektive Sicherheitsgefühl ihrer Passagiere verbessern können.

Mit dem Forschungsprojekt „Wirtschaftlichkeit von Sicherheitsmaßnahmen im öffentlichen Personenverkehr“ wird untersucht, ob Unternehmen wie die BVG das subjektive Sicherheitsgefühl ihrer Passagiere verbessern können.
Bildquelle: photocase-junkstory https://www.photocase.de/fotos/74373-u2-u-bahn-schoenhauser-allee-stadt-gelb-berlin-bewegung-photocase-stock-foto 

Was kann die Bahn für mehr gefühlte Sicherheit tun?

Objektiv sei der öffentliche Personenverkehr ein sehr sicheres Fortbewegungsmittel, sagt Lars Gerhold. Trotzdem fühlten sich einige Menschen in Zügen oder an Bahnhöfen unsicher. Das aktuelle Forschungsprojekt WiSima (Wirtschaftlichkeit von Sicherheitsmaßnahmen im öffentlichen Personenverkehr) soll herausfinden, in welche Maßnahmen Betreiber wie die BVG oder die Deutsche Bahn investieren können, um das subjektive Sicherheitsgefühl ihrer Passagiere zu verbessern. Dafür übermitteln Fahrgäste mithilfe einer App, wie sicher sie sich in bestimmten Situationen oder an bestimmten Orten fühlen. Zugleich können sie Maßnahmen vorschlagen, die ihnen in bedrohlichen Situationen mehr Sicherheit gegeben hätten. Eine technische Lösung also, die ohne die interdisziplinäre Mitwirkung nicht entstanden wäre. Sein Team sei im Laufe der Jahre selbstbewusster geworden, sagt Lars Gerhold. „Wir sind nicht das sozialwissenschaftliche Feigenblatt, mit dem man der Technik Akzeptanz verschafft. Wir fördern die kritische Reflektion in der Sicherheitsforschung.“

Die Wissenschaftler

Lars Gerhold leitet die AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung und ist Projektleiter des Forschungsforums Öffentliche Sicherheit.

Lars Gerhold leitet die AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung und ist Projektleiter des Forschungsforums Öffentliche Sicherheit.
Bildquelle: privat

Prof. Dr. Lars Gerhold
Seit 2015 leitet Lars Gerhold die „Arbeitsgruppe Interdisziplinäre Sicherheitsforschung“, an der das „Forschungsforum Öffentliche Sicherheit“ sowie weitere Forschungsprojekte angesiedelt sind, die sich mit einer Vielzahl von Themen beschäftigt: von der Wirtschaftlichkeit von Sicherheitsmaßnahmen im öffentlichen Personenverkehr über den Bildungsatlas Bevölkerungsschutz bis hin zu Warnprozessen bei Extremwetter. Seine Forschungsschwerpunkte sind Interdisziplinäre Sicherheitsforschung, Security Foresight, Gesellschaftlicher Wandel, Wahrnehmungs- und Handlungsforschung sowie Methoden der Zukunftsforschung.

Kontakt
Freie Universität Berlin Institut für Informatik
AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung
E-Mail: lars.gerhold@fu-berlin.de   


Roman Peperhove leitet die Koordinierungsstelle des Forschungsforums Öffentliche Sicherheit.

Roman Peperhove leitet die Koordinierungsstelle des Forschungsforums Öffentliche Sicherheit.

Roman Peperhove

Roman Peperhove leitet die Koordinierungsstelle des Forschungsforum Öffentliche Sicherheit der „AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung“, er verantwortet dort die inhaltliche Ausrichtung und ist Ansprechpartner für die in der AG angesiedelten Forschungsprojekte. Davor arbeitete er unter anderem am „nexus Institut für Kooperationsmanagement und Interdisziplinäre Forschung“ sowie am „Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin“. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit Fragen der sozialen Sicherheitsforschung und Methoden der Zukunftsforschung.

Kontakt
Freie Universität Berlin
Institut für Informatik / AG Interdisziplinäre Sicherheitsforschung
E-Mail: roman.peperhove@fu-berlin.de