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Der Wolkenkratzer am Euphrat

Mykene, das vorklassische Zentrum Griechenlands, Ur, die biblische Heimat, Uruk und Nineve – sie alle waren große Städte der Alten Welt. Doch eine überragte alle: Babylon, eine Großstadt, wie sie die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte

13.10.2016

Die Mauern von Babylon mit dem farbenprächtigen Ischtar-Tor zählten einst zu den sieben Weltwundern der Antike. Das Ischtar-Tor wurde rekonstruiert und kann im Vorderasiatischen Museum in Berlin bestaunt werden.

Die Mauern von Babylon mit dem farbenprächtigen Ischtar-Tor zählten einst zu den sieben Weltwundern der Antike. Das Ischtar-Tor wurde rekonstruiert und kann im Vorderasiatischen Museum in Berlin bestaunt werden.
Bildquelle: dpa/picture alliance

Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Als sie von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Land Schinar und siedelten sich dort an. Sie sagten zueinander: Auf, formen wir Lehmziegel und brennen wir sie zu Backsteinen. So dienten ihnen gebrannte Ziegel als Steine und Erdpech als Mörtel. Dann sagten sie: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab und verwirren wir dort ihre Sprache, sodass keiner mehr die Sprache des anderen versteht.

Genesis, 11, 1-7

Er hat die Pyramiden von Gizeh gesehen und die endlosen Weiten des Skythenlandes, er hat die griechischen Kolonien in Italien besucht, die Tempel in Tyros mit ihren Stelen aus Gold und Smaragd. Und Susa, die Residenzstadt des persischen Achämenidenreiches. Aber nichts hat Herodot von Halikarnassos, den Geschichtsschreiber der Antike, Geographen und Völkerkundler so beeindruckt wie Babylon, die Metropole am Euphrat: „Eine nicht nur recht große, sondern auch die schönste Stadt unter allen, von denen wir wissen“, schreibt er bewundernd in seinen Historien.

Und tatsächlich erreichte die Hauptstadt des Chaldäer- Reiches seit ihrem Ausbau durch Nebukadnezar II. (etwa 640 bis 562 v. Chr.) Ausmaße, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Mykene, das vorklassische Zentrum Griechenlands: ein Dorf dagegen. Ur, die biblische Heimat Abrahams und eine der ältesten Städte der Sumerer im Zweistromland genauso wie Athen: nicht annähernd so groß. Selbst Uruk und Nineve, die größten Städte der Alten Welt, degradierte der neubabyloniche König mit dem Ausbau seiner Stadt.

Erst nach der Zeitenwende, 700 Jahre nach Nebukadnezar, sollte Kaiser Aurelian in Rom eine Stadtmauer planen, deren Umfang den der babylonischen Mauern noch übertraf. Nicht nur die mächtigen Mauern machten die Stadt in der antiken Welt zur Legende: Der Palast suchte in Pracht und Größe seinesgleichen. Überragt wurde die Metropole am Euphrat von einer Zikkurat – einem gestuften Tempelturm: Seine Grundfläche maß 90 mal 90 Meter, die Spitze erreichte ebenfalls diese Höhe. Zum Vergleich: Der Berliner Dom hat eine Grundfläche von 74 mal 93 Metern, seine Kuppel misst eine Scheitelhöhe von knapp 75 Metern. Für die damalige Zeit sind dies gigantische Ausmaße.

Die Erzählung vom Turmbau zu Babel

„Wie viele Wissenschaftler sehe ich in diesem Götterturm das Vorbild für die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel“, sagt Eva Cancik-Kirschbaum, Professorin für Altorientalistik an der Freien Universität Berlin und Sprecherin der Forschergruppe „XXL – Monumentalized Knowledge. Extra-Large Projects in Ancient Societies“. Im Rahmen des Exzellenz-Clusters Topoi beschäftigt sie sich dort unter anderem mit dem Umbau und der Erweiterung der Stadt Babylon unter König Nebukadnezar II. (604–562 v. Chr). In der Bibel tritt Nebukadnezar II. als großer Eroberer Jerusalems auf; er verschleppt die Oberschicht des Königreichs Juda nach Babylon verschleppt und siedelt sie dort an.

Die zeitgenössischen Quellen aus Mesopotamien zeichnen ein sehr viel deutlicheres Bild: Von seinem Vater hatte der König ein Weltreich geerbt: 612 v. Chr. hatte dieser das assyrische Ninive erobert, zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. zog der junge König in Krisenregionen der Levante und unterwirft neben Jerusalem auch Aschdod, Gaza, Sidon, Tyros und Arwad. Sein Reich zieht sich nun wie eine Sichel von den Mündungen des Euphrats und des Tigris über die Abhänge des südöstlichen Taurus-Gebirges bis in die Wüste Negev und zum Roten Meer.




Babylon wird Anziehungspunkt für Händler, Pilger, Handwerker

Gleichzeitig ließ Nebukadnezar viele Städte des südlichen Zweistromlandes neu befestigen, errichtete Paläste, Tempel und Stadtmauern in Larsa, Ur und Borsippa. „Das Bauprojekt Nebukadnezars ist gleichzeitig ein politisches Programm“, sagt Cancik-Kirschbaum. „In den Texten jener Zeit stellt sich der König jedoch stets als im göttlichen Auftrag handelnd dar.“ Gleichzeitig kurbelt er durch die Bauprojekte die Wirtschaft des Landes an: neue Einnahmequellen entstehen, die Städte – und insbesondere Babylon als politische Hauptstadt – werden zum Anziehungspunkt für Händler, Pilger, Handwerker.

Kein anderes Projekt übertrifft den Ausbau seiner Hauptstadt Babylon: Die Grundfläche des Königspalastes wird zwischen 604 und 562 v. Chr. mehr als verdoppelt, bis zu sechs Mauern sollen die größte Stadt der Welt schützen, sie ragen 20 Meter in die Höhe und sind teilweise mit glasierten Ziegeln geschmückt. 480 Stadien, schreibt Herodot, umfasse die Mauer, fast 90 Kilometer. In Wahrheit sind es rund 18 Kilometer; doch womöglich hat Herodot die Länge der sechs Mauerringe zusammengerechnet.

Auf den Baustellen herrscht reger Betrieb. Die Ziegel werden mit Schiffen aus dem Umland herangeschafft. Alleine für den großen Himmelsturm benötigen die Bauherren Berechnungen zufolge rund 36 Millionen Ziegel. „Ziegel, die geformt, zu Teilen gebrannt, transportiert und verbaut werden mussten“, sagt Eva Cancik- Kirschbaum.

Sklavenarbeit spielt – anders als in Ägypten – beim Ausbau Babylons eine untergeordnete Rolle: „Um all diese Arbeit zu erledigen, müssen große Teile der Bevölkerung beschäftigt gewesen sein. Damit fungierte der König als eine Art Landesvater, der sein Volk, auch über Zeiten schlechter Ernten hinweg, mit Arbeit und Einkommen versorgte.“ In der Bibel ist der Turmbau zu Babel Sinnbild menschlicher Hybris, eine Anmaßung, die Gott erzürnt und zum Handeln zwingt: Die Menschen aller Völker versuchen gemeinsam den Himmel zu erreichen, Gott verwirrt ihre Sprachen, so dass sie einander nicht mehr verstehen und der Turmbau schließlich scheitert.

Der Turmbau zu Babel: Inbegriff gelungener Kommunikation und gleichzeitig Symbol des Scheiterns

Aus den Texten der Griechen und Römer spricht dagegen meist die Bewunderung für das monumentale Werk. Der Turmbau zu Babel erfährt somit in der westlichen Welt eine doppelte Bedeutung: er ist Inbegriff eines gemeinsamen Projekts und gelungener Kommunikation, gleichzeitig Symbol des Scheiterns. Das gigantische Bauprojekt hat sich im Gedächtnis der Menschheit verewigt. Tatsächlich dürfte Kommunikation für die Bauvorhaben Nebukadnezars II. eine entscheidende Rolle gespielt haben: Babylon ist in seiner Blütezeit eine Weltmetropole. Auf den Straßen tummeln sich Griechen, Phönizier und Perser, Ägypter, Juden und Elamer; Karawanen aus dem Jemen, aus Somalia und Arabien. „Die Stadt war vielsprachig“, sagt Cancik-Kirschbaum: „Aramäisch und Akkadisch dürften die wichtigsten Sprachen zur Verständigung gewesen sein.“ Auf Tontafeln sind in Keilschrift zahlreiche Briefe von Königshöfen, Händlern und Wissenschaftlern überliefert. Die Netzwerke der Akteure reichen von Anatolien bis nach Afghanistan. „Die Ebenen zwischen Euphrat und Tigris sind steinarme Gebiete“, sagt Altorientalistin Cancik-Kirschbaum.

In der Bibel ist der Turmbau zu Babel Sinnbild menschlicher Hybris, eine Anmaßung, die Gott erzürnt. (Gemälde des niederländischen Malers Pieter Bruegel der Ältere, circa 1525 – 1569)

In der Bibel ist der Turmbau zu Babel Sinnbild menschlicher Hybris, eine Anmaßung, die Gott erzürnt. (Gemälde des niederländischen Malers Pieter Bruegel der Ältere, circa 1525 – 1569)
Bildquelle: wikipedia/GoogleArtProject

Ziegel enthalten wichtige Inschriften

Deshalb griffen die Bauplaner auf Lehmziegel zurück, die im ganzen Land hergestellt wurden und günstig waren. Nur ein Teil der Lehmsteine wurde dabei gebrannt, da Holz zum Brennen der Steine kostbar war; oberhalb der Grundmauern, die wegen der Feuchtigkeit stets gebrannt waren, wurden die günstigen, getrockneten Ziegel verblendet mit aufwendig gestalteten, bunten Steinen: „Die hierfür verwendeten Glasuren waren teuer, etwa für das prächtige Ischtar-Tor, ebenso die in den Bauten verwendeten Holzbalken, die zum Teil aus kostbaren und mächtigen Zedern des Libanons gefertigt wurden.“

Die verbauten Ziegel sind für Archäologen und Altorientalisten wichtige Quelle: Sie enthalten Inschriften, welcher Herrscher den Bau in Auftrag gab und welches Programme er damit verfolgte. Aus Tontafeln erfahren die Forscher, welche Gewerke beauftragt wurden und welche Maße für verschiedene Bauwerke veranschlagt wurden. Es gibt Hinweise auf steigende Preise, die Staus in der Stadt und die unzureichende Qualifikation der noch verfügbaren Arbeiter. „Die Textmassen, die uns zur Verfügung stehen, übersteigen bei weitem das, was uns aus der griechisch-lateinischen Welt überliefert ist“, sagt Eva Cancik-Kirschbaum – und das obwohl nach neuesten Schätzungen beispielsweise erst zwei Prozent der in den deutschen Ausgrabungen in Babylon gefundenen Texte publiziert sind – und es kommen täglich weitere Funde hinzu.

Der Turm war ein Verbindung mit den Göttern

Aus ihnen erfahren die Forscher: Immer wieder stürzten Mauern ein, es mangelte an Pech, an Mörtel und Gerüsten. Der Schutt der alten Bauwerke blieb auf der Straße liegen: Das Niveau etwa der Prozessionsstraße vor dem Ischtar-Tor wuchs daher in der Regierungszeit Nebukadnezars II. um etwa 20 Meter. In den 42 Jahren seiner Regierungszeit realisierte der König sein gigantisches Bauprogramm. Die Fläche der Stadt verdoppelte sich. Anders als in der Bibel geschildert, wurde auch der große Turm vollendet. Er war für die Babylonier eine Verbindung der Erde mit dem Himmel und seiner Götterwelt, wie ihn viele Städte in Mesopotamien anstrebten.

In Fußböden und Wände eingemauert wurden Tatenberichte des Königs – gewissermaßen Nachrichten an die Götter und spätere Bauherren. „Der Name Nebukadnezars sollte im Gedächtnis seiner Nachkommen bleiben“, sagt die Professorin: „Diese Kommunikation mit der Zukunft scheint eine wichtige Triebfeder für den Herrscher gewesen zu sein, das Bauwerk sollte ihn unsterblich machen.“ Tatsächlich existiert der Turm heute nur noch in den Erzählungen und Schriften. Alexander der Große ließ ihn nach der Eroberung des Zweistromlandes im 4. Jahrhundert v. Chr. schleifen und baute aus den Ziegeln ein Theater.

Erst im 19. Jahrhundert entdeckte der Berliner Archäologe Robert Kodewey seine Fundamente, Saddam Hussein ließ nördlich davon, in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts einen neuen Palast errichten. Die Geschichte vom Turm, der in den Himmel reicht, wurde Legende, aufgegriffen noch einmal im Neuen Testament: So wie Gott die Menschen nach dem Turmbau zu Babel in alle Welt zerstreute und ihre Sprachen verwirrte, schafft es der Heilige Geist im Pfingstwunder, die Apostel Jesu mit fremden Zungen sprechen zu lassen und die Menschheit so noch einmal in Christi Namen zu vereinigen. Einen neuen Turm indes haben die Jünger Jesu nicht sofort gebaut. Erst im Mittelalter erreichen die Kirchtürme wieder ähnliche Höhen wie die Zikkurat von Babylon: 1311 löste die Kathedrale von Lincoln die Cheops-Pyramide als höchstes Bauwerk der Welt ab.

Die Wissenschaftlerin

Eva Cancik-Kirschbaum, Professorin für Altorientalistik an der Freien Universität Berlin und Sprecherin der Forschergruppe „XXL – Monumentalized Knowledge. Extra-Large Projects in Ancient Societies“.

Eva Cancik-Kirschbaum, Professorin für Altorientalistik an der Freien Universität Berlin und Sprecherin der Forschergruppe „XXL – Monumentalized Knowledge. Extra-Large Projects in Ancient Societies“.
Bildquelle: privat

Prof. Dr. Eva Cancik-Kirschbaum

Eva Cancik-Kirschbaum ist seit Oktober 2003 Professorin für Altorientalische Philologie und Geschichte an der Freien Universität und Direktorin des Instituts für Altorientalistik. Ihre Forschungsinteressen betreffen die wirtschaftliche, soziale und politische Geschichte des Zweistromlands und die Geschichte der altorientalischen Wissenskulturen. Sie leitet verschiedene Forschungsprojekte zu diesen Themenkreisen. Eva Cancik-Kirschbaum ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und im Vorstand des Berliner Antike- Kollegs aktiv an der Gestaltung der interdisziplinären Forschung in den Altertumswissenschaften beteiligt.

Kontakt

Freie Universität Berlin
Institut für Altorientalistik
E-Mail: altorientalistik@geschkult.fu-berlin.de