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Eine Frage der Haltung

Was bedeutet der „Fall Gurlitt“ für die Provenienzforschung, die Erforschung der Herkunft von Kunstwerken und Kulturgütern? Die Kunsthistorikerin Meike Hoffmann ist Expertin für „Entartete Kunst“ und gehört der Taskforce "Schwabinger Kunstfund" an

08.10.2014

Zwei Reiter am Strand aus dem Schwabinger Kunstfund (vermutlich bis 1939 Sammlung David Friedmann, Breslau)

Zwei Reiter am Strand aus dem Schwabinger Kunstfund (vermutlich bis 1939 Sammlung David Friedmann, Breslau)
Bildquelle: Wikipedia

Einen „Star“ nannte sie die FAZ-Journalistin Julia Voss, „die berühmteste Kunsthistorikerin der Republik“. Wenige Tage nach dem Bekanntwerden des Kunstfundes in der Wohnung des Sammlers Cornelius Gurlitt im Münchener Stadtteil Schwabing im November 2013 war Meike Hoffmanns Name in aller Munde. Dabei ist Medienhype der wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Forschungsstelle „Entartete Kunst“ der Freien Universität Berlin fremd, ihrem Forschungsauftrag ist er sogar abträglich:  „Provenienzforscher müssen diskret sein, anders kann diese Arbeit nicht getan werden“, sagt die promovierte Expertin für
nationalsozialistische Kunstpolitik.

Meike Hoffmann sitzt in ihrem Büro in der Dahlemer Koserstraße. An den Wänden stehen mit Monografien, Akten und Kunstbänden beladene Bücherregale, ein riesiges Poster zeigt den Lebenslauf des Kunsthändlers Bernhard A. Böhmer. Über dessen Nachlass hat Meike Hoffmann eine Monografie herausgegeben, seit geraumer Zeit erforscht sie das Leben Hildebrand Gurlitts. Auch er war in den 1930er Jahren ein namhafter Kunsthändler und wie seine Kollegen Bernhard A. Böhmer, Ferdinand Möller und Karl Buchholz zur Zeit des Nationalsozialismus mit dem Verkauf beschlagnahmter „Entarteter Kunst“ beauftragt. Sein Sohn war der Anfang Mai 2014 verstorbene Cornelius Gurlitt.

In dessen Münchener Wohnung waren im Frühjahr 2012 insgesamt mehr als 1.200 seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen geglaubte Kunstwerke gefunden worden. Damals hatte die Staatsanwaltschaft Augsburg Meike Hoffmann um die Begutachtung des sogenannten Schwabinger Kunstfundes gebeten. Sie sollte prüfen, welche Bilder aus der Sammlung der Nazi-Beschlagnahmeaktion „Entartete Kunst“ stammten, bei der zwischen 1936 und 1941 rund 21.000 Werke moderner Kunst aus öffentlichen Museen entfernt wurden. Meike Hoffmann arbeitete im Stillen, mit der Diskretion der Provenienzforscherin. Noch wusste die Öffentlichkeit nichts von den Bildern, die wegen eines Steuerermittlungsverfahrens gegen Cornelius Gurlitt vorübergehend konfisziert worden waren.

Die Wissenschaftlerin hatte bereits 400 Werke der Sammlung „Entartete Kunst“ zuordnen können, als im November 2013 ein Artikel im Nachrichtenmagazin „Focus“ den Kunstfund öffentlich machte. Plötzlich gab es den „Fall Gurlitt“. Und Meike Hoffmann geriet über Nacht in den Fokus der Medien. Auf einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Augsburg wurde sie als die einzige für den Fall zuständige Forscherin präsentiert. Eine Rolle, die ihr – ohne Rücksprache – auch von den Medien zugeschrieben wurde. Das führte zu Missverständnissen und heftigen Anfeindungen. „Es war natürlich nie vorgesehen, dass ich das alleine übernehme, und ich war auch nie die Einzige, die informiert war“, sagt sie. Sie sei als Gutachterin für die „Entartete Kunst“ hinzugezogen worden: „Das ist mein Fachgebiet, dazu wurde meine Expertise eingeholt.“

Meike Hoffmann begutachtet den Schwabinger Kunstfund des im Mai 2014 verstorbenen Kunstsammlers Cornelius Gurlitt. In dessen Münchener Wohnung wurden mehr als 1.200 verschollen geglaubte Kunstwerke gefunden.

Meike Hoffmann begutachtet den Schwabinger Kunstfund des im Mai 2014 verstorbenen Kunstsammlers Cornelius Gurlitt. In dessen Münchener Wohnung wurden mehr als 1.200 verschollen geglaubte Kunstwerke gefunden.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Immer noch ist ihr Unbehagen über den Verlauf der Berichterstattung spürbar. Zwischen Anerkennung für ihre Arbeit und Vorwürfen wegen vermeintlicher Alleingänge schwankten die Urteile, denen sich die Wissenschaftlerin damals ausgesetzt sah. Aufgrund des großen öffentlichen Interesses hätten sich immer wieder Außenstehende geäußert, sagt Hoffmann. Das habe die Geschichte medial aufblühen lassen – und dazu geführt, dass sie sich verselbstständigte.

Plötzlich stand die Wissenschaftlerin zwischen den Fronten von Politik, Medien, Justiz und Forschung. „Diese unterschiedlichen Bereiche unter einen Hut zu bekommen, ist nach wie vor eine der anspruchsvollsten Herausforderungen für die Zukunft“, formuliert Meike Hoffmann mit Bedacht. Während die Wissenschaft ein Erkenntnisziel habe und auf Details schaue, um Denkmuster aufzubrechen, würden von der Politik der globale Blick und die Vermittlung allgemeinverbindlicher Definitionen gefordert. Die Medien wiederum reagierten auf tagesaktuelle Diskussionen und beförderten die Meinungsbildung.

Auch darin musste sich Hoffmann während der vergangenen Monate üben: ihre Worte sorgfältig zu wägen. Inzwischen hat der Fall eine weitere Wendung genommen. Nach dem Tod Cornelius Gurlitts Anfang Mai 2014 sorgte sein Testament für Aufregung: Darin hatte er verfügt, sein Erbe an das Kunstmuseum im schweizerischen Bern zu geben. Hier sind Juristen gefragt. Aber auch die Arbeit der Kunsthistoriker geht weiter. Seit ihrer Einrichtung im vergangenen November gehört Meike Hoffmann zur Taskforce „Schwabinger Kunstfund“, einer vom Bund und vom Freistaat Bayern eingesetzten internationalen Gruppe von Forschern, Juristen und Museum-Experten. Sie soll die Herkunft der Werke klären, von denen rund 450 im Verdacht stehen, möglicherweise NS-Raubkunst zu sein. Die Frage, was der Fall Gurlitt für die Provenienzforschung bedeutet, ist nach wie vor offen. Ist er ein Präzedenzfall? Ein Wendepunkt?

Zumindest haben die Schlagzeilen das Thema ins öffentliche Bewusstsein katapultiert. Darauf hat die Politik inzwischen reagiert: Die Bundesmittel für Provenienzforschung wurden von ursprünglich 2,7 Millionen Euro pro Jahr auf 4 Millionen erhöht. Vor allem aber soll eine lange geforderte Einrichtung entstehen, das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste – German Lost Art Foundation, eine bundesweite Dachorganisation aller Forschungseinrichtungen, in denen zur Herkunft von Kunstwerken geforscht wird. Hierzu zählen die 2008 eingerichtete Arbeitsstelle für Provenienzforschung am Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin, die Magdeburger Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste und die Forschungsstelle „Entartete Kunst“ an der Freien Universität.

Von diesem neuen Verbund, der 2015 seine Arbeit aufnehmen wird, soll ein Signal auch ins Ausland ausgehen, wo vielfach eine zentrale Anlaufstelle gefordert worden war. Dass es eine solche Einrichtung bisher nicht gab, macht zudem deutlich, wie spät die Provenienzforschung in Deutschland und anderen Ländern in Gang gekommen ist. Das hat verschiedene Gründe. Viele Betroffene waren noch Jahre nach Kriegsende traumatisiert und scheuten davor zurück, vor Gericht Ansprüche auf verlorenes oder geraubtes Eigentum geltend zu machen. Oft war es erst die nächste Generation, die um das Erbe der Eltern und Großeltern kämpfte. Doch auch in Politik und Öffentlichkeit fehlte nach der ersten, bereits durch die Alliierten eingeleiteten Rückgabephase lange Zeit das Problembewusstsein.

Erst mit den Washingtoner Prinzipien von 1998 wurden internationale Regelungen für die Rückgabe von Vermögenswerten aus der Zeit des Holocaust getroffen: Deutschland und 43 weitere Staaten verpflichteten sich damals, Raub- und Beutekunst, die den aus rassischen oder politischen Gründen verfolgten Privatsammlern, die während der Nazizeit emigrieren mussten, abgepresst worden war, ihren Eigentümern zurückzugeben. Eine Verpflichtung, die allerdings allein auf moralischen Prinzipien beruht und rechtlich nicht bindend ist. Und die sich allein an öffentliche Einrichtungen richtet, vor allem an Museen – nicht an Privatpersonen.

Dennoch ist vieles inzwischen auch von privaten Eigentümern oder deren Erben zurückgegeben worden. Und auch einzelne Werke aus dem Bereich der „Entarteten Kunst“ fanden in ihre Herkunftsmuseen zurück, aus denen sie damals aus kunstideologischen Gründen entfernt worden waren und nicht aufgrund rassischer oder politischer Verfolgung. Was bis heute noch in den Depots der Museen lagert, ist allerdings in vielen Fällen unbekannt. Als Erinnerungsspeicher besetzen Archive eine Schlüsselstelle für die Forschung. Sie seien in Deutschland lange Zeit stiefmütterlich behandelt worden, sagt Meike Hoffmann.

So wurden viele Aktenbestände zum Kunsthandel im Dritten Reich in den Nachkriegsjahren ins Ausland verkauft. Das Getty-Research-Institute in Los Angeles – „eines der Hauptreiseziele für Provenienzforscher“ – besitze eine große Sammlung, die es derzeit in einer digitalen Datenbank erfasse. Diese Transparenz sei notwendig, sagt Hoffmann, koste aber auch Geld. Das Systematisieren von Beständen, wozu auch die Herkunftsrecherche von Museumsstücken gehört, das Erstellen von Datenbanken, deren Pflege – all das hat seinen Preis. Ob man ihn bezahlt oder nicht, sei auch eine Frage der Haltung, sagt Meike Hoffmann. Wie Archivgut gepflegt wird, sage etwas aus über die Beziehung einer Gesellschaft zu ihrer Geschichte: „Wenn es dieses Bewusstsein nicht gibt“, sagt die Wissenschaftlerin, „hat das Auswirkungen auf die Forschung in den Archiven.“ Und auf die Erinnerungskultur.

Der Fall Gurlitt berührt darum auch grundsätzliche Fragen: Woran wollen wir uns erinnern? Wie pflegen wir das kulturelle Gedächtnis? Wozu verpflichtet uns unsere Geschichte? Seit 2003 ist die Forschungsstelle „Entartete Kunst“ am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität angesiedelt – auf Initiative der privaten Ferdinand-Möller- Stiftung, die bis heute im Wesentlichen die Finanzierung übernimmt. In der Forschungsstelle wird untersucht, welche Wege die während der NS-Zeit aus den Museen beschlagnahmten Kunstwerke genommen haben.

Seit April 2010 werden die Forschungsergebnisse in einer öffentlich zugänglichen Online-Datenbank publiziert. Informationen zu mehr als der Hälfte der ehemals betroffenen 21.000 Werke stehen mittlerweile im Internet zur Verfügung. Die Grundlage für diese Übersicht hat Andreas Hüneke gelegt, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Meike Hoffmanns Kollege am Kunsthistorischen Institut. Ihm sei es gelungen, das zentrale Dokument für die NS-Beschlagnahme zu finden, sagt Meike Hoffmann: „Sein Ausgangspunkt war die Inventarliste mit 16.595 Positionen, die von den Nationalsozialisten von 1938 bis 1941 akribisch geführt wurde. Davon gibt es nur eine uns bekannte vollständige Abschrift: die Harry-Fischer- Liste, die im Victoria-and-Albert-Museum in London aufbewahrt wird.“

Andreas Hüneke konnte die 1997 in London entdeckte Liste als eine Abschrift des Originals identifizieren. Solche Forschungsergebnisse finden den Weg auch in die Lehre: Seit dem Sommersemester 2011 bietet Meike Hoffmann am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität für Bachelorstudierende das Modul Provenienzforschung an; seit dem Wintersemester 2013/2014 ist das Lehrangebot auch für Masterstudierende zugänglich. Das Interesse an der kunsthistorischen Detektivarbeit und der Bedarf an Herkunftsforschern steigen, stellen die Wissenschaftler fest. Auch das hat mit Gurlitt zu tun. Auf Archivarbeit wird im Studium großer Wert gelegt: In jedem Sommersemester können Studierende an quellenkundlichen Workshops in Berliner Archiven teilnehmen: Dort erhalten sie professionelle Anleitung zur Nutzung von Archiven und Arbeit mit Dokumenten.

Diese Art der Berufsvorbereitung ist längst keine Selbstverständlichkeit in der Kunsthistoriker-Ausbildung an deutschen Universitäten, wie Meike Hoffmann weiß. Für die Zukunft der Provenienzforschung, über Gurlitt hinaus, wünscht sich Meike Hoffmann vor allem zweierlei: Sensibilität in der Betrachtung sowie Transparenz der Daten. Wie in den USA müssten auch in Deutschland mehr als bisher Museums- und Archivbestände in digitalen Datenbanken erfasst und öffentlich zugänglich gemacht werden. Nur so könne das notwendige Bewusstsein für die Problematik von Kulturgütern geschaffen werden.

Mit gutem Beispiel ist kürzlich das Münchener Auktionshaus Neumeister vorangegangen: Es lässt derzeit von einem wissenschaftlichen Team der Ludwig-Maximilians- Universität München die Geschichte seiner Vorgängerinstitution, dem Kunstversteigerungshaus Adolf Weinmüller, aufarbeiten. In diesem Zusammenhang werden die Auktionskataloge von 1936 bis 1945 digitalisiert. Weinmüller handelte zur Zeit des Nationalsozialismus nachweislich mit beschlagnahmten Kunstgegenständen. Gleichzeitig stand er in Kontakt mit jüdischen Kunsthändlern und beschäftigte in seinem Unternehmen eine jüdische Kunsthistorikerin, die zur damaligen Zeit sonst kaum eine Anstellung gefunden hätte. Beide „Fälle“ – Weinmüller und Gurlitt – zeigen, wie wichtig ein differenzierter Blick ist.

Kunsthändler waren Schlüsselfiguren, bei denen die Fäden zusammenliefen, sagt Hoffmann. Sie haben während des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit gehandelt und verkauft, getauscht – vielleicht getäuscht. Sie hatten sowohl mit „Entarteter Kunst“ zu tun als auch mit Werken aus den besetzten Gebieten und hatten ganz unterschiedliche Handelsprofile und -interessen. Mit Schwarz-Weiß-Malerei, der schablonenhaften Einteilung in Täter und Opfer, komme man, davon ist Hoffmann überzeugt, nicht weiter. Hildebrand Gurlitt ist einer von vier Kunsthändlern, den die Nationalsozialisten zur Verwertung „Entarteter Kunst“ herangezogen hatten. Er ist der Einzige, zu dem eine Veröffentlichung noch aussteht. Meike Hoffmann arbeitet daran.

Meike Hoffmann hatte 2011 das weltweit erste akademische Ausbildungsprogramm zur Provenienzforschung etabliert

Meike Hoffmann hatte 2011 das weltweit erste akademische Ausbildungsprogramm zur Provenienzforschung etabliert
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Die Wissenschaftlerin

Dr. Meike Hoffmann

Meike Hoffmann ist seit 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektkoordinatorin der Forschungsstelle „Entartete Kunst“. Davor war sie unter anderem Volontärin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Brücke-Museum Berlin und bis 2006 freischaffende Kunsthistorikerin, Autorin und Ausstellungskuratorin. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts (Bildende Kunst, Kunsthandwerk, Architektur), dem deutschen Expressionismus und der Expressionismus-Rezeption, der Ausdruckskunst, der Gestaltpsychologie und den Ästhetischen Theorien der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der Schwerpunkt ihrer aktuellen Forschungstätigkeit liegt auf der Nationalsozialistischen Kunstpolitik, der Geschichte der „Entarteten Kunst“ sowie dem Kunsthandel im „Dritten Reich“. Im Sommersemester 2011 hat sie das weltweit erste akademische Ausbildungsprogramm zur Provenienzforschung am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität etabliert.

Kontakt: Freie Universität Berlin Kunsthistorisches Institut, Forschungsstelle „Entartete Kunst“ E-Mail: meikeh@zedat.fu-berlin.de