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Die Lehre nach dem Crash

Krisen betreffen Unternehmen, Branchen und ganze Volkswirtschaften. Wie und was sie aus daraus lernen können, das untersuchen Wirtschaftswissenschaftler der Freien Universität.

13.12.2013

Nach den Finanzskandalen kam es weltweit zu Protesten

Nach den Finanzskandalen kam es weltweit zu Protesten
Bildquelle: iStockphoto-Akabei

Seit dem Bankencrash von 2008 reißen die Krisennachrichten nicht ab. Was haben Volkswirtschaften, Politik und Unternehmen in den vergangenen fünf Jahren daraus gelernt? Wirtschaftswissenschaftler der Freien Universität verfolgen die Frage auf verschiedenen Ebenen. Wie unterschiedliche Nationen mit den Gefahren der Liberalisierung umgehen, diese Frage untersucht der Ökonomieprofessor Gregory Jackson. Professor Georg Schreyögg setzt dagegen bei der Frage an, wie einzelne Unternehmen Krisen erkennen – und wie viel Krise nötig ist, bevor ein Wandel kommt.

Vor fünf Jahren schien es so, als sei die Zeit für Reformen gekommen. Als die Weltwirtschaftskrise 2008 ganze Staaten fast in den Bankrott trieb. Selbst die größten Verfechter des Liberalismus mussten damals kleinlaut zugeben, dass die Kräfte der Märkte nicht zwangsläufig zur besten aller ökonomischen Welten geführt hatten. Die Liberalisierung der Finanzmärkte und damit der Rückzug der Politik vom Marktgeschehen hatte den Banken viel Spielraum für gewagte Spekulationen gelassen. Bis die Blase platzte.

Noch heute kämpfen Länder wie Spanien, Griechenland und die USA mit den Folgen dieser Krise, die sich mittlerweile zu einer Staatsschuldenkrise ausgeweitet hat. Nun stellt sich die Frage: Will die Politik an dem System etwas ändern oder alles belassen wie bisher? Eigentlich würde man annehmen, dass fünf Jahre nach dem Crash, der sowohl in den USA als auch in der Europäischen Union zu hoher Arbeitslosigkeit und zur Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich geführt hat, nun der Wille zur Veränderung groß sein müsste.

Bisher sieht es allerdings nicht danach aus. Die mit einem Oscar prämierte Dokumentation „Inside Job“, die die Verflechtung und Interessenskonflikte zwischen Bankern, Unternehmensberatern und Politik in den USA zeigt, offenbart diese Reformunwilligkeit auf erschütternde Weise. Der Film sieht die Gründe im System: So lange mächtige Akteure wie Banken bei riskanten Spekulationen profitieren, besteht wenig Interesse daran, Regulierungen zu akzeptieren oder umzusetzen – etwa eine Finanzmarkt-Transaktionssteuer einzuführen.

Dominic Strauss-Kahn, während der Aufzeichnung des Films noch Direktor des Internationalen Währungsfonds, sagt es so: „Die Finanzbranche hatte 2008 Angst bekommen. Jetzt will sie zu ihren alten Spielregeln zurück."

Gregory Jackson, Professor für Personalpolitik am Institut für Management der Freien Universität Berlin, zieht ähnliche Schlüsse. Auch in seinem Forschungsschwerpunkt „Comparative Capitalism“ beschäftigt er sich mit den Ursachen und Folgen der Krise. Jackson sieht ebenfalls einen Stillstand auf dem Finanzmarktsektor. „Die Frage ist nicht Markt versus Staat. Märkte müssen immer sozial eingebettet und reguliert sein. Jene Märkte, die das nicht sind, vernichten auf lange Sicht ihre eigenen Grundvoraussetzungen“, sagt Jackson. Obwohl 2008 der gesellschaftliche und politische Wille existiert habe, eine Reform des Finanzmarktsektors durchzuführen, sei die Einflussnahme der Banken schlicht zu groß gewesen. In der Europäischen Union habe besonders Großbritannien, wo das produzierende Gewerbe klein sei und vor allem die Börsen das Bruttoinlandsprodukt antrieben, eine Transaktionssteuer auf EU-Ebene verhindert.

Mittlerweile wollen lediglich elf Länder, darunter Deutschland und Frankreich, eine Finanzmarkt-Transaktionssteuer einführen, um die Banken an den Kosten der Krise zu beteiligen – sie soll gerade einmal 0,1 Prozent der gehandelten Summen betragen. Widerstand kündigt sich besonders auf Seiten der Banken an. Das Argument ist immer das gleiche: Man befinde sich in globaler Konkurrenz, insofern würde eine Transaktionssteuer die Abwanderung von Kapital bedeuten, sagt Jackson.

Mindestlohn – Eingriff gegen soziale Ungleichheit?

In seinem Forschungsschwerpunkt vergleicht Gregory Jackson verschiedene Marktwirtschaften und stellt fest, inwiefern in einem globalisierten Markt eine Einflussnahme von Nationalökonomien möglich und darüber hinaus sinnvoll sei. Denn auch wenn in den Krisen der vergangenen Jahren oft der Eindruck entstand, dass Volkswirtschaften nur noch ein Spielball der Märkte sind – Jackson konnte in verschiedenen komparatistischen Studien zeigen, dass Volkswirtschaften durchaus einen messbaren Spielraum haben, um ihr Marktgeschehen zu steuern.

Eine Finanzmarkt-Transaktionssteuer hält er beispielsweise für sinnvoll. Und auch in anderen Bereichen ließen sich Reformen umsetzen, auch wenn sie von der Politik aufgrund der Interessen einzelner Akteure vermieden würden. Das betreffe vor allem die umstrittene Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns.

„Wenn man sich die Entwicklung der vergangenen 15 Jahre in der Europäischen Union anschaut, dann stellt man fest, dass es große Unterschiede in der Einkommensverteilung gibt“, sagt der Wissenschaftler. „Deutschland ist eines der Länder, in denen die Ungleichheit stark gewachsen ist.“ Das zeigen makroökonomische Untersuchungen: In den vergangenen Jahren hat sich die Kluft im Einkommen zwischen Verdienern mittlerer Einkommens und jenen der unteren 10 Prozent um 25 Prozent vergrößert.

In Großbritannien hingegen ist der Abstand um fünf Prozent kleiner geworden. „Großbritannien hat vor einigen Jahren den Mindestlohn eingeführt“, sagt Jackson und nennt einen der Gründe für diese Entwicklung. In Deutschland gebe es die untere Lohngrenze – anders als in Frankreich und England – nicht. Dies führe zu einer Vergrößerung der sozialen Ungleichheit. In Deutschland haben Politiker, Unternehmen, aber auch die Gewerkschaften einen Mindestlohn lange zu verhindern gewusst.

Die Tarifautonomie lag bei den Gewerkschaften, die vor allem die Löhne im profitstarken „Produzierenden Gewerbe“ regulierten. Noch vor 20 Jahren, als dieser Bereich den Kern der deutschen Wirtschaftsleistung ausmachte, sei das sinnvoll gewesen, sagt Jackson. Das Problem sei jetzt aber, dass der produzierende Bereich immer stärker schrumpfe. „Zugleich wächst der Dienstleistungssektor. Und hier fehlt es an flächendeckenden Tariflöhnen und einer effektiven Arbeitnehmervertretung.“

Mit katastrophalen Auswirkungen: In manchen Regionen und Branchen würden Löhne unterhalb der Armutsgrenze bezahlt. Das schaffe Unzufriedenheit und soziale Instabilität. Ein staatlicher Eingriff im Sinne eines Mindestlohns würde hier zu mehr sozialer Gerechtigkeit führen, ist Jackson überzeugt. „Da, wo das deutsche System der Tarifverhandlung schwach ist, könnte man von den Erfahrungen in England lernen. Allerdings müsste man diese Instrumente dem institutionellen Rahmen in Deutschland anpassen.“ Und was ist mit dem Argument der Abwanderung?

Viele Ökonomen verweisen darauf, dass ein Mindestlohn zu Jobverlust führt. „Dafür gibt es keine einschlägigen empirischen Belege“, sagt Jackson. „Die neueren und methodisch besseren Studien aus den USA oder Großbritannien finden keine bedeutenden negativen Effekte auf Beschäftigung oder Unternehmen nach Einführung des Mindestlohns. Märkte brauchen Institutionen, die korrigierend in den Markt eingreifen können. Das berührt häufig Fragen der Macht und sozialen Gerechtigkeit. Anders gesagt: Welchen Wert muss eine Stunde menschlicher Arbeit mindestens haben?“ Der Markt könne Eingriffe vertragen. Jetzt sei die Politik gefragt, die wachsende Ungerechtigkeit zu erkennen und rasch aufzuhalten.

Der bewährte Weg in den Abgrund

Manchmal hängt es von einzelnen Interessen ab, ob wichtige Reformen – wie die Einführung der Finanzmarkt- Transaktionssteuer – verschoben werden. Manchmal kann es aber auch daran liegen, dass sich Akteure ihrer falschen Richtungsentscheidung gar nicht bewusst sind.

Vor allem erfolgreiche Unternehmen sind von diesem Prozess betroffen, den man in der Wirtschaftswissenschaft das Phänomen der „Pfadabhängigkeit“ nennt, sprich: die Unfähigkeit eines Unternehmens, die eigene strategische Orientierung zu verändern. Besonders in Märkten, die sich in einem radikalen Wandel befinden, kann diese Trägheit zu fatalen Konsequenzen führen. Diese Problemlage untersucht der Wirtschaftswissenschaftler Georg Schreyögg vom Institut für Management der Freien Universität Berlin.

In seinen Analysen beschäftigt sich der Professor für Organisation und Führung mit Unternehmen, die den Zeitpunkt verpassen, sich auf neue Marktverhältnisse einzustellen. „Wir erforschen, welche Probleme es aufseiten der Unternehmen gibt, neue Ideen aufzugreifen und zu verwirklichen. Aufgrund historischer Prozesse können eingefahrene Denkweisen solche Unternehmen erheblich einschränken. Hierbei handelt es sich um unsichtbare Barrieren gegen Wandel. Wir machen sie sichtbar“, sagt der Ökonom. Man spricht von Pfadabhängigkeit, wenn ein vormals erfolgreiches Management immer wieder die gleichen Ideen aufgreift, ohne die veränderte Situation auf dem Markt zu erfassen.

Als Beispiel nennt Schreyögg die Firma Polaroid: Eine riesige Firma, die in den 70er und 80er Jahren ungeheuer erfolgreich war. „Dann kam die digitale Revolution, die eine völlig andere Technologie auf den Markt gebracht hat. Das hat Polaroid zwar erkannt, aber dennoch ist es nicht gelungen, die alten Kompetenzen mit der neuen digitalen Ideenwelt zu verknüpfen.“

Anstatt ein Risiko einzugehen und völlig neue Marktideen umzusetzen, habe das Unternehmen vielmehr auf die bewährte Strategie gesetzt und somit eine Neuaufstellung verpasst. Erfolgreiche Unternehmen hingegen zeichneten sich dadurch aus, dass sie flexibel sind, immer wieder unbekannte Wege einschlagen und sich fähig zeigen, das bekannte Kerngeschäft zu verlassen. „Diese erfolgreichen Weichenstellungen nennt man frame breaking changes“, sagt der Wissenschaftler.

Risiken frühzeitig erkennen

Ein gutes Beispiel für einen solchen radikalen Kurswechsel sei dagegen IBM. Das Unternehmen ist erfolgreich geworden durch die Herstellung von großen Computern. Irgendwann seien diese Rechner aus der Mode gekommen, andere Unternehmen hätten bessere Modelle hergestellt, sagt Schreyögg. „Anstatt weiterhin dem alten Geschäftsmodell nachzutrauen, hat IBM eine völlig neue Strategie gewählt und sich auf den Servicesektor spezialisiert.“ Das Management habe auf diese Weise in letzter Sekunde die Kurve gekriegt.

Jetzt bestehe das Kerngeschäft auschließlich aus Serviceleistungen. Und wer zeichnet für so einen erfolgreichen Strategie- Wechsel verantwortlich? Professor Schreyögg verweist auf starke Führungspersönlichkeiten, die Mut zum Reformwillen beweisen und keine Angst davor haben, sowohl Mitarbeiter als auch Aktionäre zu verunsichern.

Und wer zeichnet für so einen erfolgreichen Strategie- Wechsel verantwortlich? Professor Schreyögg verweist auf starke Führungspersönlichkeiten, die Mut zum Reformwillen beweisen und keine Angst davor haben, sowohl Mitarbeiter als auch Aktionäre zu verunsichern.

Der Erfolg ist das Narkotikum

Manchmal sei genau diese Verunsicherung und Experimentierfreude notwendig, um eingefahrene Strukturen aufzubrechen. Auch die Kooperation mit externen Beratern könne dabei helfen, veraltete Geschäftsmodelle frühzeitig zu erkennen. „Hier muss man auch einmal die Beratungsfirmen in Schutz nehmen. Wenn ein Unternehmen von Pfadabhängigkeit betroffen ist, kann so ein Blick von Außen sehr hilfreich sein“, sagt der Ökonom.

„Gerade auch bei Familienunternehmen, in denen das Oberhaupt wie ein Patriarch herrscht, ist die Einbeziehung von externen Beratern besonders sinnvoll.“ Heißt das also, dass vor allem kleine, traditionsbewusste Unternehmen vom Phänomen der Pfadabhängigkeit betroffen sind? Nicht unbedingt, sagt Georg Schreyögg. Bei seinen Untersuchungsobjekten handelte es sich vor allem um erfolgreiche Unternehmen – Handelsvolumen, Größe oder Mitarbeiterstärke spielten dabei keine Rolle. „Der stärkste Treiber für die Pfadabhängigkeit ist der historische Erfolg, weil der natürlich auch die Überzeugung bekräftigt, dass man sich nicht ändern muss.Der Erfolg ist das Narkotikum. Man will immer wieder den bewährten Weg wählen.“

Die Forschungsergebnisse von Georg Schreyögg sind auch auf andere Kontexte übertragbar. Pfadabhängigkeit betrifft Unternehmen, Individuen, Regionen, aber auch ganze Staaten. Zum Beispiel Griechenland: „In Griechenland hat lange Zeit ein ineffizientes Steuersystem gewirkt, doch die Leute haben sich daran gewöhnt. Bis alles zusammengefallen ist. Die Regierung hat es verpasst, frühzeitig zu erkennen, dass der eingeschlagene Weg nicht funktioniert.“ Die scheinbar bewährte Art des Denkens und Wirtschaftens habe Reformen nachhaltig verhindert. Die Konsequenzen seien bis heute spürbar. „Wir sehen jetzt, wie Berater aus dem Ausland nach Griechenland reisen, um Institutionen wie etwa Finanzämter zu reformieren. Aber das gestaltet sich sehr schwierig.“

Die Erkenntnis, die sich daraus ziehen lässt, betrifft jeden – ob nun Finanzämter, Staaten, Unternehmen oder Individuen. Die einzige Konstante, die der globalisierten Welt geblieben ist, ist der Wandel. Gerade in Krisenzeiten hat diese Idee auch etwas Tröstliches: Wer bereit ist, Änderungen frühzeitig zu erkennen und gewohnte Denk- und Handlungsmuster auf den Prüfstand zu stellen, hat beste Chancen, die Krisen gut zu überstehen.