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„Plötzlich war alles anders“

Vor 50 Jahren wurde an der Freien Universität das erste Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Deutschland gegründet – Masterstudierende dokumentierten in einer Ausstellung seine Geschichte und Besonderheiten des Studiums

18.01.2016

Peter Szondi (links) und Religionswissenschaftler Gershom Scholem diskutieren 1971 eine Schrift von Walter Benjamin.

Peter Szondi (links) und Religionswissenschaftler Gershom Scholem diskutieren 1971 eine Schrift von Walter Benjamin.
Bildquelle: Marlene Schnelle-Schneyder

Es ist nur ein Wort, aber für Peter Szondi machte es den Unterschied: Nicht „Seminar für Vergleichende Literaturwissenschaft“, sondern „Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft“ sollte das im Dezember 1965 an der Freien Universität neu eingerichtete Institut heißen.

Den Grund für die Namensergänzung hatte der in der Schweiz ausgebildete Germanist ungarischer Herkunft am 26. Mai in einem Schreiben an den Dekan der Philosophischen Fakultät dargelegt: „Zur historischen Untersuchung der faktischen Zusammenhänge zwischen den Nationalliteraturen ist längst eine systematische, aufs Ganze der Literatur zielende theoretische Bemühung hinzugekommen, die nicht dem Vergleich von Unterschieden, sondern der Erforschung des Gemeinsamen gilt."

Was in den USA zu dieser Zeit bereits selbstverständlich war – nämlich Literaturtheorie, Gattungspoetik und Literatursoziologie zur Untersuchung von literarischen Werken heranzuziehen – sollte nun auch in Deutschland institutionell verankert werden. Nur ein Wort, aber für die deutsche Wissenschaft bedeutete Szondis Programm eine kleine Revolution.

Die Gründung des ersten Instituts dieser Ausrichtung sendete deutliche Signale an die Germanistik. Denn das Fach war Mitte der sechziger Jahre nicht nur wenig aufgeschlossen für Literaturtheorie, sondern auch noch immer durch seine „braune Vergangenheit“ belastet.

Anlässlich des 30. Jubiläums der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Freien Universität stellte der 2009 verstorbene Szondi-Schüler Gert Mattenklott fest: „Es war kein Zufall, dass die Universität mit Peter Szondi ausgerechnet einen der ersten Juden beauftragte, der sich – als Kind aus einem deutschen KZ freigekauft – nach 1945 in Deutschland habilitiert hatte.“ Die Geburt des Seminars gewissermaßen als historische – und moralische – Konsequenz: „Es würde dieses Institut nicht geben ohne die Scham angesichts der Geschichte der deutschen Philologie während des Faschismus“, so Mattenklott.

Mit 40 Studierenden und einem Professor – Szondi – startete im Sommersemester 1965 der Lehrbetrieb. Viele, die in der damals schon stark belegten und konservativ ausgelegten Germanistik unglücklich waren, atmeten auf: „Plötzlich war alles anders“, erinnert sich Hans-Thies Lehmann, Szondi-Schüler und später Professor für Theaterwissenschaft, „das Studium hatte wieder einen Sinn.“ Szondis Auffassung, dass man einem Text wie einem Menschen begegnen müsse, mit demselben Respekt und derselben Ernsthaftigkeit, wurde zur ethischen und politischen Grundlage des Arbeitens am Seminar.

Eine Welt tat sich auf – und die Welt kam nach Dahlem: Szondi lud Vertreter aus dem Umkreis der Frankfurter Schule wie Theodor W. Adorno ein, aus Israel den jüdischen Religionswissenschaftler Gershom Scholem, aus Frankreich den französischen Poststrukturalisten Jacques Derrida; aus den USA rief er Samuel Weber, der als Szondis Assistent Seminare über Jacques Lacan anbot.

Die in Yale lehrenden Literaturtheoretiker René Wellek, Geoffrey Hartman und Paul de Man hielten Vorträge und Seminare; für eine Dichterlesung kam Paul Celan. Das Institut mit seiner exzellent ausgestatteten Bibliothek in einer Villa am Kiebitzweg 23 – heute Otto-von-Simson-Straße 23 und Sitz des AStA der Freien Universität – wurde zu einer weltweit renommierten Adresse. Sechs Jahre führte Szondi sein Institut, bis 1971. Der „Mythos Szondi“ war da längst geboren.

Im Oktober 1971 beging Peter Szondi Suizid – vermutlich am 18. des Monats. Er ertränkte sich im Halensee. Das Seminar stand unter Schock. „Vaterlos“ nannte es Henriette Beese, seine langjährige Studentin und Tutorin, als sie die erste Studentengeneration „nach Szondi“ im Sommersemester 1972 begrüßte.

Auch Hans-Thies Lehmann erinnert sich: „Sein Tod machte uns einwenig zu verlassenen Söhnen.“ Wie schwer es war, die Lücke zu schließen, die Szondis Tod hinterlassen hatte, belegt die Tatsache, dass das Seminar sechs Jahre lang ohne Leitung blieb, geführt allein von Szondis Assistenten. Nach zwei gescheiterten Berufungen stand es 1976 vor der Schließung. 1977, endlich, wurde Eberhard Lämmert als Nachfolger berufen. 2005 zog das Institut aus dem Hüttenweg 9, wo es sich seit 1983 befand, an den jetzigen Standort in der Rost- und Silberlaube. Mit dem Umzug erhielt es den Namen Szondis.

Respekt vor Werk und Autor – Peter Szondis Haltung bleibt ein Auftrag

Wie hat sich das Institut in den vergangenen 50 Jahren entwickelt? Was bedeutet es, heute Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft zu studieren, und wohin führt das? Mit diesen Fragen beschäftigen sich seit dem Frühjahr Studierende eines Masterseminars bei Irene Albers.

Anlässlich des Jubiläums am 16. Dezember bereiteten sie eine Ausstellung zur Institutsgeschichte vor. In zwölf Vitrinen ist zu sehen, was die Suche der vergangenen Monate zutage gefördert hat: Bücher und Briefe, Seminarpläne und Fotos. Ein Ordner mit den alten Semester- und Seminarplänen fand sich in den Institutsregalen – ein wertvoller Fund, fast hätte ihn jemand weggeworfen.

Die Studierenden waren im Archiv der Freien Universität in Lankwitz, Nele Ana Riepl und Sima Reinisch sind nach Marbach ins Deutsche Literaturarchiv gefahren, wo die Nachlässe von Szondi, Mattenklott und dem im Mai verstorbenen Eberhard Lämmert aufbewahrt werden. Dort haben die Studentinnen auch Szondis Notizbücher eingesehen, in denen sich Aufzeichnungen zu seinen Seminarvorbereitungen finden.

Wie er diese Hefte geführt hat, gebe Aufschluss über sein methodisches Arbeiten, sagt Nele Ana Riepl. Gespräche mit Ehemaligen des Instituts, heute Professoren, Journalisten, Übersetzer und Autoren, haben die Studierenden besonders beeindruckt. Und manches in ein anderes Licht gerückt. Die Bedeutung von Hella Tiedemann etwa habe sich neu erschlossen: Von 1990 bis 2001 „nur“ außerplanmäßige Professorin war die Adorno-Schülerin jedoch „eine zentrale Figur“, auch während der sogenannten autonomen Seminare im Streiksemester 1988/89, die für viele Ehemalige das Studium prägten.

Die Geschichte des Instituts ist komplex – wie verhalten sich Lehrende und Studierende heute zu dem Gründer und Namensgeber? Mit der Ausstellung und einem Band, der unter dem Titel „Nach Szondi“ die Gespräche mit den Ehemaligen sowie Aufsätze und Dokumente vereinen wird, wollten sie auf keinen Fall „Personenkult betreiben“, sagt Masterstudent Patrick Durdel. Er hat mit seinen Kommilitonen die Seminarpläne und Studienordnungen von damals und heute verglichen. Und Bedingungen gefunden, die in den Bachelor- und Masterstudiengängen von heute nicht mehr vorstellbar wären.

So betrug die durchschnittliche Studienzeit in den 80er Jahren 13,7 Semester, für eine Hausarbeit brauchte man wegen des hohen Anspruchs bis zu einem Jahr. Zu Szondis Zeit mussten Studierende drei Sprachen im Original lesen können und mit der englischen, französischen und deutschen Literatur von der Renaissance bis in die Gegenwart vertraut sein. Ein dicht bestückter Karteikasten mit Exzerpten – auch er ist in der Ausstellung zu sehen – zeugt von der Prüfungsvorbereitung eines damaligen AVL-Studenten. Überforderungs- und Versagensängste angesichts der hohen Ansprüche hätten seinerzeit viele Studenten belastet.

Szondis Figur und seine charismatische Lehre haben das Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft nachhaltig geprägt. Kein leichtes Erbe. Doch auch wenn sich die Umstände für Studierende und Lehrende im Laufe der vergangenen 50 Jahre geändert haben – der Gegenstand, mit dem sie sich beschäftigen, ist derselbe geblieben: die Literatur. Ihren Werken so respektvoll zu begegnen, wie Szondi es gefordert hat, bleibt ein Auftrag. Und eine Haltung, die nicht an Gültigkeit verliert.

Das Peter-Szondi-Institut: Wer dort nach Szondi lehrte und heute lehrt

1977, sechs Jahre nach Szondis Tod, wurde Eberhard Lämmert als dessen Nachfolger berufen. Er leitete das Institut bis 1993, von 1976 bis 1983 war er auch Präsident der Freien Universität. Von 1980 bis 1995 besetzte der Romanist Peter Brockmeier eine zweite Professur, von 1989 an Winfried Menninghaus eine dritte; er verließ das Institut 2013.

Nachfolger von Lämmert wurde 1994 Gert Mattenklott. Hella Tiedemann war seit 1991 außerplanmäßige Professorin und lehrte bis 2001. 2005 gelang mit der Berufung von Georg Witte die schon von Szondi gewünschte Erweiterung um die Slawistik. Oliver Lubrich und Remigius Bunia hatten von 2008 bis 2011 beziehungsweise von 2009 bis 2015 Juniorprofessuren inne.

Heute lehren am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität als Professoren die Romanisten Joachim Küpper (seit 2000) und Irene Albers (seit 2004) sowie seit 2011 die Anglistin Claudia Olk, Präsidentin der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Seit diesem Semester ist die Komparatistin Caroline Torra-Mattenklott hinzugekommen.

Am Peter-Szondi-Institut angesiedelt sind drei ständige Gastprofessuren: die Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur, die Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik, die mit dem von der Stiftung Preußische Seehandlung verliehenen Berliner Literaturpreis verbunden ist, sowie die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung.

Ausstellung „Ethos des Lesens“

Die Ausstellung in der Philologischen Bibliothek ist noch bis zum 15. März 2016 zu sehen:

  • montags bis freitags 9 bis 22 Uhr, samstags und sonntags 10 bis 20 Uhr.
  • Philologische Bibliothek, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin (U-Bhf. Thielplatz, U 3)

Weitere Informationen

Prof. Dr. Georg Witte, Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, E-Mail: witte@zedat.fu-berlin.de