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Zwischen Rap, Ghettoimage und Familie

Lebenswelten junger Frauen in Neukölln: Ethnologin Michaela Brosig mit Förderpreis für ihre Abschlussarbeit ausgezeichnet

29.06.2012

Ausgezeichnet mit dem Förderpreis für Interkulturelle Studien: Die Ethnologin Michaela Brosig nimmt die Glückwünsche des Jury-Vorsitzenden Professor Eckhard Nagel entgegen.

Ausgezeichnet mit dem Förderpreis für Interkulturelle Studien: Die Ethnologin Michaela Brosig nimmt die Glückwünsche des Jury-Vorsitzenden Professor Eckhard Nagel entgegen.
Bildquelle: Klaus Satzinger-Viel / Universität Augsburg

Ob Rütli-Schule, häusliche Gewalt oder die Quote von Hartz-IV-Empfängern: Wie kaum ein anderer Berliner Bezirk geriet Neukölln in den vergangenen Jahren mit Negativattributen bundesweit in die Schlagzeilen. Abseits medialer Klischees untersuchte die Ethnologin Michaela Brosig von der Freien Universität im Rahmen ihrer Magisterarbeit die Lebenswelten junger Frauen mit türkischem Migrationshintergrund in Neukölln. „Neukölln Unlimited?“ fragt sie im Titel und spielt damit nicht nur an auf den gleichnamigen Film, sondern auch auf die Chancen und Einschränkungen, die das Leben in diesem Bezirk mit sich bringt.

Rund zwei Jahre lang hat die Ethnologin mit dem Schwerpunkt in feministischer Ethnologie in einer Neuköllner Mädcheneinrichtung neun junge Frauen im Alter von 12 bis 23 Jahren als Forscherin und Sozialarbeiterin begleitet und in Interviews befragt. Für ihre Magisterarbeit, betreut von Professor Hansjörg Dilger am Institut für Ethnologie, erhielt Michaela Brosig nun den Förderpreis für Interkulturelle Studien – ein Preis der Stadt Augsburg, der Universität Augsburg und des Vereins Forum Interkulturelles Leben und Lernen (FILL e. V.).

Sich Handlungsspielräume erarbeiten und selbstbestimmt leben zu wollen – diese Ziele formulierten viele der jungen Frauen. Da sie meist noch bei ihren Familien wohnen, nutzen sie hierfür – neben schulischem Ehrgeiz und der Hoffnung auf eine berufliche Karriere – verschiedene Strategien, die vom Konfrontationskurs mit den Eltern über den Dialog bis hin zum Verheimlichen reichen.

„Je mehr Zwänge in den Familien vorherrschen, desto eher verheimlichen die Mädchen beispielsweise Disco-Besuche oder einen Freund“, sagt Michaela Brosig. In manchen Fällen werden mithilfe der Schwestern oder der Mutter Alibis konstruiert: Während die weibliche Solidarität in der Familie die jungen Frauen einerseits stärkt, bringt diese Art des Doppellebens nicht selten starken psychischen Druck mit sich. Denn traditionelle Normen sind im Umfeld der jungen Frauen weit verbreitet, „auch wenn die meisten Forschungsteilnehmerinnen für sich selbst alternative Vorstellungen von Konzepten der Ehre entworfen haben“, wie Brosig sagt.

Das hierzulande kolportierte Bild unterdrückter muslimischer Frauen war ebenfalls Thema der Gespräche: „Die jungen Frauen fanden, dass dieser Diskurs viel zu stark verallgemeinert“, berichtet Michaela Brosig. Sie sperrten sich dagegen, als Teil einer homogenen türkischen Kultur wahrgenommen zu werden und verorteten konservative Normvorstellungen in der Generation der Eltern, von der sie sich selbst abgrenzten.

„Nur wenige der jungen Frauen waren überhaupt schon einmal in der Türkei“, sagt Michaela Brosig. Dort würden sie als „Almanci“ bezeichnet, was sich mit „Deutschländer“ übersetzen lässt. „Eindeutige Identifizierungen, beispielsweise als Türkin oder Deutsche, lehnen die jungen Frauen mehrheitlich ab, sie beziehen sich vielmehr auf brüchige oder lokale Identitäten.“

So bezeichnen sich viele der jungen Frauen als „Neuköllnerinnen“ – insbesondere dann, wenn sie sich gegen negative Fremdzuschreibungen wie „Ausländerin“ schützen wollten, stellte Brosig fest. Mit dem Begriff Heimat verbinden sie Räume, in denen sie soziale Anerkennung und Bestätigung erfahren – wie etwa im Mädchenzentrum, im Stadtteil oder in der Familie.

Neukölln nehmen die Mädchen ambivalent wahr. „Mediale Darstellungen von Neukölln als Ghetto oder als sozialer Brennpunkt werden von den jungen Frauen zum Teil übernommen. Der Ort eignet sich damit aber auch für Hip-Hop und Subkulturen“, sagt Michaela Brosig. Insbesondere Mädchen, die rappen, ziehen Stärke und Identifikation aus dem Leben in diesem Stadtteil. Diesen nehmen viele der jungen Frauen auch als Ort der Sicherheit wahr, an dem sie sich nicht durch Rassismus bedroht fühlen – ganz im Gegenteil zu den Ostbezirken der Stadt.

Rückblickend empfindet Michaela Brosig den Beobachtungszeitraum als sehr kurz für eine solche Studie – insbesondere die jüngeren Mädchen veränderten sich schnell: „Eine längsschnittliche Studie über mehrere Jahre wäre interessant“. Sporadischen Kontakt zu einigen Forschungsteilnehmerinnen hat sie zwar noch. Die Spur manch anderer hat sich indes verloren.

Weitere Informationen

Kontakt zu Michaela Brosig über Presse und Kommunikation der Freien Universität Berlin, Tel.: 030 / 838-73196, E-Mail: melanie.hansen@fu-berlin.de