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Geschichtswissen Jugendlicher: der Osten hängt den Westen ab – NRW erneut Schlusslicht

Wissenschaftler des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin veröffentlichen Analysen für fünf Bundesländer

Nr. 211/2012 vom 07.08.2012

Das Geschichtswissen vieler Jugendlicher ist nach Langzeitstudien von Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin mangelhaft. In den neuen Bundesländern wissen die Schüler durchschnittlich mehr als in den alten, überdies lernen sie durch den zeitgeschichtlichen Schulunterricht auch mehr hinzu, wie die Erhebungen des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin weiter ergaben. Am geringsten sind demnach sowohl das Schülerwissen als auch der Lernerfolg in Nordrhein-Westfalen.

Bereits im Juni hatten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Prof. Dr. Klaus Schroeder von der Freien Universität unter dem Titel „Später Sieg der Diktaturen?“ die Ergebnisse eines umfangreichen Forschungsprojekts zu zeitgeschichtlichen Kenntnissen und Urteilen von Jugendlichen vorgelegt. Nun sind für die Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen detaillierte Analysen einer Langzeituntersuchung verfügbar, die weiteren Aufschluss über die Ursachen unzureichenden Wissens und falscher Einschätzungen sowie Hinweise für Verbesserungen geben.

Das geringe Schülerwissen über Zeitgeschichte ist nach Einschätzung der Wissenschaftler deshalb so problematisch, weil damit eine mangelnde Fähigkeit einhergeht, zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden zu können. Wer wenig weiß, hält die DDR oder den NS-Staat vergleichsweise häufiger für eine Demokratie – und die Bundesrepublik häufiger für eine Diktatur.

In Thüringen wissen die Schüler überdurchschnittlich viel über die deutsche Zeitgeschichte. Das verdanken sie zu einem Gutteil ihrem Geschichtsunterricht, der hier zu einem deutlichen Wissenszuwachs im Untersuchungsverlauf führt. Mit einem Plus von 11,5 Prozentpunkten richtig beantworteter Fragen lernen die Schüler hier fast doppelt so viel hinzu wie in NRW (plus 5,9 Prozentpunkte). Das ermöglicht auch den Thüringer Schülern ein angemesseneres Urteil über die Systeme der deutschenZeitgeschichte. Eine gewisse Ausnahme stellt die DDR dar. Trotz einer deutlichen Wissenssteigerung hat auch nach der Behandlung der DDR im Schulunterricht mehr als die Hälfte der Schüler ein neutrales oder positives DDR-Bild. Existiert hier vielfach noch „Das soziale Paradies in den Köpfen?“

Das zeitgeschichtliche Wissen der Schüler in Sachsen-Anhalt ist das höchste der beteiligten Bundesländer in der Längsschnittuntersuchung. Zudem konnnten die Jugendlichen ihre Kenntnisse durch den Schulunterricht im Untersuchungszeitraum deutlich erweitern. Allerdings gelingt es ihnen den Ergebnissen zufolge häufig nicht, dieses Wissen und ihre Präferenz für liberale Demokratien auf die Realität zu übertragen. Beispielsweise sind etwa 25 Prozent der befragten Schüler der Ansicht, die Politik Adolf Hitlers wäre ohne den Zweiten Weltkrieg und die Judenvernichtung richtig gewesen. Viele Schüler scheinen nach dem Motto zu bewerten: „Freiheit ist gut – Führung besser?“

In Nordrhein-Westfalen ist nicht nur das Geschichtswissen am geringsten, die Schüler profitieren hier auch am wenigsten von ihrem Schulunterricht, wie die Studie weiter ergab. Diese Wissenslücken haben Folgen: Trotz entsprechendem Geschichtsunterricht sei in Nordrhein-Westfalen zuletzt der Anteil der Schüler, die den Nationalsozialismus positiv bewerten, der höchste unter allen beteiligten Bundesländern, fanden die Wissenschaftler heraus. Insofern müsse gefragt werden: „Hat der Geschichtsunterricht versagt?“

Bayerische Schüler haben der Untersuchung zufolge oft Schwierigkeiten, die große politisch-institutionelle Kontinuität der Bundesrepublik vor und nach der Wiedervereinigung zu erkennen. Beispielsweise glauben 60 Prozent von ihnen, dass man sich in der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung nicht mit rechtlichen Mitteln gegen staatliche Willkür habe wehren können. Vom wiedervereinigten Deutschland glauben das hingegen nur 20 Prozent. Die Schüler hier scheinen überzeugt von der Idee „Rechtsstaat dank Wiedervereinigung“.

Insgesamt profitieren sie aber deutlich von ihrem Geschichtsunterricht, sodass ihr Wissen im Vergleich der untersuchten Bundesländer zuletzt sogar leicht überdurchschnittlich ausfällt. Angesichts der Tatsache, dass hier aufgrund zeitlicher Verzögerungen im kultusministeriellen Genehmigungsverfahren anders als in den anderen Bundesländern keine Gymnasiasten befragt werden konnten, ist das ein erfreuliches Ergebnis.

Das Geschichtswissen der Schüler in Baden-Württemberg ist durchschnittlich, was angesichts des insgesamt niedrigen Kenntnisniveaus aber nicht zufriedenstellend ist, wie die Wissenschaftler weiter feststellen Allerdings gelinge es hier besser als in anderen Bundesländern, den Jugendlichen ein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur zu vermitteln. Eine mögliche Ursache seien die baden-württembergischen Lehrpläne, die mit ihrer Bezugnahme auf freiheitliche demokratische Werte eine hervorragende Grundlage für eine „werteorientierte Wissensvermittlung“ böten.

An der Längsschnittanalyse nahmen die fünf Bundesländer Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Thüringen teil. Über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren wurden in drei Städten jedes Landes jeweils zwei bis drei Klassen mehrfach befragt. Insgesamt nahmen 785 Schüler der 9. und 10. Jahrgangsstufen der verschiedenen Schularten an der Untersuchung teil. Diese Längsschnittuntersuchung ermöglicht einen tieferen Einblick in die Geschichtsbilder der Befragten; messbar sind auch die Veränderungen von Wissen und Einschätzungen über den Zeitraum. Das erlaubt Rückschlüsse auf den Politik- und Geschichtsunterricht und gibt Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten der historisch-politischen Bildung.

Für weitere Auskünfte und Interviewwünsche

  • Dagmar Schulze Heuling, Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin, Tel.: 030/838-55762, E-Mail: d.heuling@fu-berlin.de
  • Rita Quasten, Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin, Tel.: 030/838-55762, E-Mail: r.quasten@fu-berlin.de

Literatur

Die fünf Studien sind als Arbeitspapiere des Forschungsverbundes SED-Staat erschienen und können gegen eine Schutzgebühr von je 20 Euro direkt beim Forschungsverbund SED-Staat bestellt werden. Darüber hinaus können Journalisten auf Anfrage eine Zusammenfassung jeder Einzelstudie per E-Mail erhalten.

„Hat der Geschichtsunterricht versagt?“, Längsschnittanalyse Nordrhein-Westfalen, Nr. 45/2012

„Freiheit ist gut – Führung besser?“, Längsschnittanalyse Sachsen-Anhalt, Nr. 46/2012

„Rechtsstaat dank Wiedervereinigung?“, Längsschnittanalyse Bayern, Nr. 47/2012 

„Werteorientierte Wissensvermittlung“, Längsschnittanalyse Baden-Württemberg, Nr. 48/2012

„Das soziale Paradies in den Köpfen?“, Längsschnittanalyse Thüringen, Nr. 49/2012

• Das Buch „Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen“ von K. Schroeder et al. mit den Gesamtergebnissen des Forschungsprojekts kann weiterhin als Buch beim Peter Lang Verlag und im Buchhandel bestellt werden (ISSN 0946-9052).